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Bestürzende Studie: „Willkommensklassen“ für Flüchtlingskinder machen eine Menge Probleme – Lehrkräfte müssen sich durchwursteln

BERLIN. Theoretisch klingt das Prinzip einfach und einleuchtend: Flüchtlingskinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommen, werden zunächst in gesonderten Lerngruppen sprachlich fit gemacht, bevor sie in Regelklassen Aufnahme finden. In der Praxis allerdings, dies hat nun eine aktuelle Studie aus Berlin ergeben, birgt insbesondere dieses verbreitete Modell der sogenannten „Willkommensklassen“ eine Menge Probleme. Fazit der Forscher: „Die Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher wird bisher kurzfristig und kurzsichtig organisiert.“ Die Lehrkräfte werden mit den Schwierigkeiten weitgehend allein gelassen – sie müssen sich durchwursteln.

Sogenannte “Willkommensklassen” für Flüchtlingskinder werden von Wissenschaftlern kritisch gesehen. Foto: DFID / Flickr (CC BY 2.0)

Rund 300.000 Flüchtlingskinder sind im vergangenen Jahr in Deutschlands Schulen aufgenommen worden. Je nach Bundesland gab und gibt es unterschiedliche Wege zur Integration. Mal werden die geflüchteten Schüler rasch in reguläre Klassen aufgenommen, woanders sind Sprachtests Voraussetzung für eine Teilnahme am Regelunterricht, oder aber ein Übergang ist erst nach einer vorgegebenen Zeit vorsehen – zunächst steht der Unterricht in einer sogenannten „Willkommensklasse“ an. Nach maximal einem Jahr sollen junge Flüchtlinge für Regelklassen dann sprachlich fit sein. Eine aktuelle Studie aus Berlin, die die praktische Arbeit mit Flüchtlingskindern an Berliner Grundschulen untersucht hat, nährt allerdings Zweifel, ob das tatsächlich in solchen Sondergruppen gelingt. Denn die Ergebnisse der Erhebung, die von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung gefördert wurde, sind zum Teil bestürzend.

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„Die separierte Beschulung in ‚Willkommensklassen‘ produziert eine ganze Reihe von organisatorischen Problemen“, so berichten die Wissenschaftler. Das beginnt bei den fachlichen Inhalten: „Für ‚Willkommensklassen‘ an Grundschulen ist kein Curriculum vorgesehen, darum variieren die Inhalte des Unterrichts von Schule zu Schule und selbst von Klasse zu Klasse. Auch das im Leitfaden angegebene Ziel, intensiv Deutschkenntnisse zu vermitteln, damit die Kinder am Regelunterricht teilnehmen können, wird von den Lehrkräften unterschiedlich ausgelegt.“

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Zudem benutzen die Pädagogen unterschiedliche Materialen: Die Mehrzahl der Lehrkräfte hat sich selbst eine Materialsammlung angelegt mit Vorlagen aus dem Internet, von Kollegen oder von Fortbildungen. Weder finde eine regelmäßige Dokumentation des Lernstandes der Kinder statt, noch sei der Übergang in die Regelklassen formal geregelt. „Vielmehr entwickelt jede Lehrkraft in Abstimmung mit der Schulleitung eigene Kriterien dafür“, so heißt es. Häufig werde dies mit der Durchführung eines selbst erstellten Tests nachgewiesen.

Der Lehrkörper der „Willkommensklassen“ setzt sich der Untersuchung zufolge zum einen aus Lehrkräften aus dem regulären Kollegium zusammen, die sich für diese Aufgabe entschieden haben oder von der Schulleitung dafür bestimmt wurden. Diese Lehrkräfte hatten in den untersuchten Fällen keine Ausbildung für das Unterrichten von „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ). Zum anderen wurden viele Lehrkräfte neu eingestellt, insbesondere Quereinsteiger, von denen die meisten eine DaZ-Ausbildung absolviert oder entsprechende Lehrerfahrungen haben. Immerhin: Nur wenige der befragten Lehrkräfte hatten weder auf Lehramt studiert noch eine DaZ-Ausbildung. Aber: Die neu eingestellten Quereinsteiger werden deutlich schlechter bezahlt als reguläre Lehrer und erhalten nur befristete Verträge.

“Hoch motivierte” Lehrkräfte

„Fast alle befragten Lehrkräfte schätzten sich dennoch selbst als hoch motiviert, empathisch und engagiert ein. Jedoch beklagt die Mehrheit von ihnen einen Mangel an personeller Unterstützung. Es besteht ein großes Interesse an Fortbildungen, die reichhaltig angeboten, aber nicht immer genutzt werden können, weil es an vielen der Schulen keine zufriedenstellende Vertretungsregelung gibt“, so heißt es in dem Papier.

Zu den inhaltlichen Problemen der Sondergruppen gesellen sich gewichtige organisatorische. Zum Beispiel stellen die Forscher fest: „In den ‚Willkommensklassen‘ herrscht eine sehr hohe Fluktuation. Zum einen kommen das ganze Schuljahr hindurch Kinder in die Klasse, die gerade neu in Deutschland angekommen sind. Zum anderen verlassen die Kinder die Klassen, die aus den Erstaufnahmeeinrichtungen ausziehen und damit meist auch die Schule wechseln müssen, und die Kinder, die in Regelklassen aufgenommen werden. Diese Situation beschreiben die Lehrkräfte als große Herausforderung, weil es die Etablierung von Strukturen und gruppendynamischen Prozessen erschwert.“

Auch die Trennung wird als Problem wahrgenommen – von den Pädagogen selbst: „Generell ist bei vielen Lehrkräften die Wahrnehmung verbreitet, dass die ‚Willkommensklassen‘ aufgrund ihrer Separiertheit im Schulalltag häufig ‚vergessen‘ werden, beispielsweise bei den Bundesjugendspielen, Einschulungsfeiern, dem Schulfest, der Vergabe von Turnhallenzeiten oder der Beteiligung an Theaterstücken.“

Ehrenamtliche Unterstützung spiele an vielen der untersuchten Schulen eine große Rolle. Von Schulen mit separaten „Willkommensklassen“ werde häufig ein großer Bedarf an ehrenamtlicher Unterstützung formuliert und hier fänden sich auch deutlich mehr ehrenamtliche Aktivitäten als an Schulen mit einem integrativen Ansatz. „Offenbar mildern hier Ehrenamtliche Problemlagen, die aus der getrennten Beschulung entstehen“, so schlussfolgern die Wissenschaftler.

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Aber: Die Untersuchung zeige, dass die Beschulung neu zugewanderter Kinder und Jugendlicher in gesonderten Klassen keineswegs alternativlos sei. „So haben sich einige Schulen dazu entschlossen, diese Kinder und Jugendlichen in altersentsprechende Regelklassen einzugliedern und dies mit täglichem Deutschunterricht zu ergänzen“, so heißt es in der Untersuchung.

„Diese Schulen haben mit deutlich weniger organisatorischen Problemen zu kämpfen. So werden die Kinder von ausgebildeten Grundschullehrern unterrichtet und erhalten Unterstützung durch DaZ-geschulte Lehrkräfte. Ein Curriculum und Fachunterricht sind gewährleistet, es besteht Kontakt zu Kindern der Regelklassen und der komplette Übergang in diese erfolgt einfach, wenn kein zusätzlicher Deutschunterricht mehr besucht wird. Bei einer direkten Eingliederung der neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen in die Regelklassen werden diese zudem von Anfang an nicht als scheinbar homogene, gesonderte Gruppe sichtbar. Dies wirkt möglichen Stigmatisierungen und Kulturalisierungen dieser Kinder entgegen und sie werden einfach als Teil der Schülerschaft angesehen.“ Agentur für Bildungsjournalismus

Hier geht es zu einer Zusammenfassung der Studie.

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Hintergrund: Flüchtlingskinder in der Schule

Warum gibt es bei der Beschulung von Flüchtlingskindern in Deutschland nicht mehr Einheitlichkeit?

Weil es dem deutschen Föderalismus widerspräche, wenn eine Bundesbildungsministerin mal eben das Heft in die Hand nähme. Die zuständige Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) verweist darauf, dass die Voraussetzungen bei der Beschulung von Flüchtlingen regional auch sehr unterschiedlich waren. «Die einen Länder profitieren beispielsweise noch von der demografischen Rendite, weil die Zahl der Kinder zurückgegangen ist, die Schulen aber nicht mitgeschrumpft sind. Geflüchtete Kinder können so im System aufgenommen werden», sagte die scheidende KMK-Präsidentin Claudia Bogedan (SPD). «In anderen Ländern sind Kommunen gewachsen. Dort wird es zunehmend schwieriger, den Kindern einen Schulplatz zu geben, ein Ausbau ist notwendig.» Zentrale Ansätze gebe es aber durchaus – vor allem in der Lehrerausbildung für Integration und immer heterogenere Klassen.

Wer stemmt den Unterricht in den Flüchtlingsklassen?

Zu Beginn des Flüchtlingsandrangs waren es viele Ehrenamtliche und pensionierte Lehrer, die sich der Mega-Aufgabe stellten. Aber die Länder haben inzwischen auch kräftig neu eingestellt. In Berlin hat sich die Zahl der betroffenen Schüler im September 2016 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt – auf über 12.000 Kinder und Jugendliche in gut 1000 Willkommensklassen. Dafür stellte der Stadtstaat rund 1000 Lehrer ein.

Insgesamt sei «in den Schulen Beeindruckendes geleistet» worden, lobte KMK-Chefin Bogedan. Da der Migrationsdruck 2016 geringer wurde und damit die Dringlichkeit von Unterricht für neue Flüchtlinge, ist von einer Beruhigung der Lage auch im Bildungssystem auszugehen. Dennoch: Die Friedrich-Ebert-Stiftung beziffert den Gesamtbedarf auf zusätzlich etwa 20.000 Lehrer, den finanziellen Mehraufwand auf jährlich gut zwei Milliarden Euro.

Wie wird die deutsche Integrationsleistung international beurteilt?

Insgesamt positiv. Der oberste Bildungsexperte der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Andreas Schleicher, lobt Deutschland, propagiert zugleich aber ebenfalls die schnelle Integration der Flüchtlingskinder in den Regelunterricht. Reine Willkommensklassen seien «keine Ideallösung», sondern nur «aus der Not geboren». Denn wer aus seiner Heimat schon gute Mathe-Kenntnisse mitbringe, habe damit in einer Regelklasse rasch Erfolgserlebnisse – und lerne zusätzlich im Kontakt mit deutschen Schülern die Sprache. dpa

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