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Die Schule der Gesellschaft – Wie Schule sich entwickelt und zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beiträgt

BERN. Angesichts rasanter gesellschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Entwicklungen ist die Verunsicherung auch auf Seiten der Schule groß. Bereitet sie unsere Kinder ausreichend auf die Zukunft vor? Wird die Schule den Herausforderungen des 21 Jahrhunderts gerecht? Ist sie dazu hinreichend wandelbar? Selten waren die Befürchtungen stärker, Schule könne mit der Entwicklung nicht Schritt halten. Die Unsicherhiet zeigt sich nicht zuletzt in einer Vielzahl, einander teils zuwiderlaufender Reformen, die ihre Begründung kaum mehr in sozialen Visionen als in der dringenden Behebung aktueller Unzulänglichkeiten finden. Die Situation scheint unübersichtlicher denn je. Dass das, was die Schule lehren soll, schon immer ein Abbild gesellschaftlicher Erwartungen war und dass das Schulwesen dabei eine erhebliches Wandlungsfähigkeit an den Tag gelegt hat, zeigt jetzt eine Schweizer Studie.

„Die Zukunftsfähigkeit unseres Landes hängt ab von der Qualität unseres Bildungswesens.“ Lässt sich dieses Zitat wörtlich dem ehemaligen nordrhein-westfälischen CDU-Landtagsabgeordneten Helmut Stahl zuordnen, gibt es wohl kaum einen Bildungspolitiker, der nicht schon einmal mit einer ähnlichen Formulierung die entscheidende Rolle der Schule für die Zukunft der Gesellschaft unterstrichen hat. Gerne greifen auch Wirtschaftsvertreter auf derartige Formeln zurück, wobei oft noch die zukünftige globale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hinzukommt.

Was und wie in der Schule unterrichtet werden soll ist Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Foto: Hugo Ortiz Ron, Asamblea Nacional del Ecuador / flickr (CC BY-SA 2.0)

Verknüpft sind solche Aussagen meist mit Forderungen an eine strukturelle aber vor allem inhaltliche Veränderung der Schule, nicht selten verbunden mit dem Vorwurf, die Schule hinke der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Entwicklung hinterher. Die Rede vom Schulwesen des 19. für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört ebenfalls zu den Standardfiguren bildungspolitischer Reden aller Fasson.

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Finden auf dieser Basis nahezu alle an die Schule herangetragenen Partikularinteressen eine Begründung, zeigen sich insgesamt aber auch große Linien. Stichworte seien aktuell etwa die Inklusion oder der Bereich Digitalisierung / “neue“ Medien.

Schon daran zeigt sich deutlich: Die zentrale Ausbildungsinstitution des Nachwuchses der Gesellschaft ist immer zugleich deren Spiegelbild, in unübersichtlichen Zeiten wie heute nicht immer zu ihrem Besten. Denn die Verunsicherung der Menschen angesichts rasant verlaufender, aber nur schwer prognostizierbarer Entwicklungen zeigt sich auch in und an der Schule, die sich nach wie vor vielfältigen Reformaktionen und -forderungen ausgesetzt sieht, bei denen schon mal die Übersicht verlorengehen kann.

Zu einem stärkeren Selbstbewusstsein der Schule kann da ein historischer Blick beitragen, wie ihn jetzt 25 Forscher der Universitäten Genf und Zürich sowie verschiedener Pädagogischer Hochschulen auf die Schweizer Volksschulen gerichtet haben. Aus zehn Kantonen rekonstruierten und analysierten sie dazu die Inhalte von Schulbüchern, und Lehrplänen und es steht zu vermuten, dass sich viele Erkenntnisse auch auf die Schulentwicklung anderer Länder übertragen lassen.

Konkret zeigt die Untersuchung, dass das, was die Schule lehren soll, stets ein Abbild gesellschaftlicher Erwartungen war und dass die Inhalte dabei einem erheblichen Wandel unterliegen. Zugleich zeigt sich, dass die Schule in ihrer Wandlungsfähigkeit stets zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beigetragen hat.

In der Volksschule sei seit ihrer Gründung 1830 nichts naturgegeben. Der Fremdsprachenunterricht sei etwa aus wirtschaftlichen Gründen als Schulfach eingeführt worden. Seine Bedeutung für den nationalen Zusammenhalt in der Schweiz wurde erst viel später zum Argument. Das Schulfach Deutsch, wie wir es heute kennen, entstand erst allmählich. Am Anfang stand die Notwendigkeit, in die Kulturtechniken Lesen und Schreiben einzuführen, später kamen Grammatik und Literatur hinzu. Turnen wurde aus militärpolitischen Gründen ein obligatorisches Schulfach. Knabenhandarbeit, also „Werken“, entstand im Gegensatz zu Mädchenhandarbeit erst Ende des 19. Jahrhunderts – im Zuge einer Wirtschaftskrise.

Die schulische Wissensordnung werde immer wieder neu verhandelt. “In der historischen Perspektive zeigt sich, dass das, was in der Schule gelehrt und gelernt werden soll, überhaupt nicht immer so war, wie wir es heute als fix oder gar naturgegeben annehmen. Die schulische Wissensordnung ist letztlich eine normative Setzung, die man nur im gesellschaftlichen und historischen Kontext verstehen kann”, sagt etwa Gesamtprojektleiter Lucien Criblez, Professor für Pädagogik an der Universität Zürich.

Verändert habe sich nicht nur der Fächerkanon und was in den Fächern gelehrt und gelernt wird. Die Forschenden kommen auch zu dem Schluss, dass die Reformpädagogik, die generell als Phase der großen pädagogischen Innovationen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gilt, auf diese Veränderung keinen großen Einfluss hatte. Wesentlich einflussreicher sei der Aufschwung der Naturwissenschaften im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewesen. “Mit ihren Erkenntnissen kam im 19. und 20. Jahrhundert neues Wissen in die Schule. Dadurch hat sich die schulische Wissensordnung verändert”, sagt Criblez. “Die zusätzlichen Stunden in den naturwissenschaftlichen Fächern wurden auf die bestehende Stundenzahl obendrauf gesetzt und damit das Schulprogramm überladen. Eine der Folgen war eine große Debatte über die Überlastung der Schülerinnen und Schüler.”

Verstärkt wurden die Bezüge zur Wissenschaft zwischen 1960 und 1980: Zu den fachwissenschaftlichen Bezugsdisziplinen der Schulfächer wie Geschichte, Germanistik, Mathematik kamen neu auch die Sozialwissenschaften, also Erziehungswissenschaft und Psychologie hinzu. Dadurch habe sich auch die Bedeutung unterschiedlicher Akteure, die die schulische Wissenspolitik bestimmen, verändert: “Haben vorher Schulinspektoren und Seminardirektoren bestimmt, welche Inhalte wie unterrichtet werden sollen, wird dies nun stärker durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch durch Lehrerinnen und Lehrer beeinflusst”, sagt Criblez. Im selben Zeitraum etablierte sich auch die Fachdidaktik, die wissenschaftlich gesichertes Wissen über die Vermittlung von Wissen zur Verfügung stellt.

Die historische Beschäftigung mit dem, was in der Schule gelehrt und gelernt werden soll, und mit den Legitimationen der schulischen Wissensordnung zeige auf, dass die Schule grundlegende gesellschaftliche Aufgaben wahrnehme, also eine Funktion der Gesellschaft sei. “Das schulische Programm und die schulische Wissensordnung ist dabei einem ständigen Aushandlungsprozess unterworfen”, sagt Criblez.

Dies zeige auch die aktuelle Debatte um den Lehrplan und die Fremdsprachen: “Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu solchen Fragen sind zwingend. Es gibt zum Beispiel keine wissenschaftlich eindeutigen Erkenntnisse, auf deren Grundlage die Frage, welche Fremdsprache wir zuerst lernen sollen, entschieden werden kann. Es gibt nicht ,richtig’ oder ,falsch‘.” Die Antwort könne deshalb nur Ergebnis eines Aushandlungsprozesses sein. Dieser sei letztlich abhängig vom historischen Kontext, von den gesellschaftlichen Erwartungen an Schule – und den politischen Mehrheitsverhältnissen, erklärt Criblez. Auch die häufig beklagte Ökonomisierung der Schule sei historisch gesehen kein Novum, sei doch die Schaffung der heutigen Sekundarschule in den 1830er-Jahren weitgehend ökonomisch begründet worden. (zab, pm)

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