DÜSSELDORF. Das Schulsystem ist schwer reformierbar, kritisiert Ulrich Heinemann in seinem Buch „Paradoxe Geschichte der Schule nach PISA“. Warum das so ist und was der Reform entgegensteht, erklärt der Autor und ehemalige Ministerialbeamte aus dem NRW-Schulministerium in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Schulverwaltung NRW“. Seine Thesen im Überblick.
1. Eltern sind die zentrale Referenzgröße und die „Giganten“ in allen Schuldiskussionen. Jeder beziehe sich auf sie. Gehör finden vornehmlich die Eltern aus der sprachmächtigen Mittelschicht, die selbst unter Druck stehen, Ihrem Nachwuchs die Chancen zu erhalten, die sie selbst realisieren konnten.
2. Stiftungen sind „Scheinriesen“. Entgegen der gängigen Annahme, dass Stiftungen einen starken Einfluss auf die Bildungspolitik haben, meint Heinemann, dass sich eine nachhaltige und flächendeckende Wirkung der von den Stiftungen initiierten Schulpreise und Modellvorhaben auf die Modernisierung der Schule nicht nachweisen lässt. Als Beispiel führt er das von der Bertelsmann-Stiftung entwickelte SEIS (Selbstevaluation in Schulen), an. Es sei erst von einigen Bundesländern übernommen worden, heute friste es aber nur noch ein Kümmerdasein.
3. Das ganze System ist lernschwach. Ein Gedankenspiel dazu: Nehmen wir einen Elektroingenieur und einen Lehrer, die vor 100 Jahren eingefroren wurden und heute wieder auftauen. Der Elektroingenieur wäre in seinem Beruf heute rettungslos verloren, wohingegen der Lehrer sich wohl recht schnell zurechtfinden würde. Er würde ja noch vieles vorfinden, was er kenne, stellt Heinemannn fest: Halbtagsunterricht, 45-Minuten-Takt, überlange, an vorindustriellen Arbeitszyklen orientierten Ferienzeiten, Monoprofessionalität, schwache Teamorientierung, fehlende Arbeitsteilung, lehrerzentrierter, auf den Klassendurchschnitt fixierten Unterrichtsstil und die Leistungskriterien einer sozial und ethnisch homogenen Mittelschicht, die es Kindern aus sozialen Unterschichten und aus dem migrantischen Umfeld besonders schwermache.
4. Lehrerverbände sind Teil des Problems. Denn Sie seien ohne Ausnahme „hartleibige, strukturkonservative Verfechter der beschriebenen Lernschule“, die nur ihre eigenen Interessen, die Autonomie und den Status des Berufsstandes, sichern wolle.
5. Heinemann sieht eine Lösung für bessere Steuerung in einer wieder breiter aufgestellten Steuerung durch die Schulaufsicht. Diese sollte die zentralen Aspekte wie Kompetenzorientierung, Heterogenitäts- und Lernerfolgsorientierung, individuelle Förderung und Chancengerechtigkeit voranbringen. Parallel sollte dazu das Unterstützungssystem für Schulen stärker ausgebaut werden – nach dem Vorbild Niederlande.
6. Die Schulpolitik ist besser als ihr Ruf. Die Bundesländer in der KMK seien sich weit einiger als die Bildungswissenschaften über den Sinn der Schulreformen. Die Schulpolitik befinde sich nur im „grundlegenden Irrtum über die Wandlungsfähigkeit und Reformbereitschaft des Schulsystems“. Dessen Akteure seien offene oder verkappte Gegner jeder Modernisierung der Schulen. Sie sorgten sich lediglich um ihre Autonomiespielräume, ihre professionelle Identität und ihre Privilegien. nin
Ulrich Heinemann: Bewegter Stillstand: Die paradoxe Geschichte der Schule nach PISA. Weinheim/Basel 2017.
