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Wann, wenn nicht jetzt? Gebt Lehrern endlich die Unterstützung, die sie brauchen!

Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.

DÜSSELDORF. Der Arbeitsmarkt für Lehrkräfte ist im Grundschulbereich weitgehend leergefegt. Freie Stellen können nicht besetzt werden. Darin liegt auch eine Chance – wenn die Politik die Schule endlich als multiprofessionelle Einrichtung verstehen würde. Gebt Lehrern die Unterstützung, die sie brauchen! Wie nötig das ist, bestätigt der aktuelle “Chancenspiegel”, eine Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, die (mal wieder) eine unzureichende Förderung von Risikoschülern feststellt.

News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf

Lena (Name geändert) ist sieben Jahre alt – sie geht in die zweite Klasse. Das Kind ist in der Schule sozial integriert und unauffällig, es wird von Lehrern und Mitschülern gleichermaßen gemocht. Auch körperlich ist Lena augenscheinlich gesund und weit entwickelt; sie ist mit Abstand die Größte in der Klasse. Nur: Sie lernt schlecht. Werden in Mathematik Tests geschrieben, dann gibt sie ein leeres Blatt ab. Wenn sie selbstständig Aufgaben bearbeiten soll, ist sie mehr mit dem Sortieren ihres Federmäppchens beschäftigt als mit Papier und Stift.

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„Lena kann sich kaum länger als zehn Minuten konzentrieren“, so hat ihre Lehrerin in einen Förderplan geschrieben. Als Förderziel steht darin vermerkt: „konzentriertes Arbeiten“. Wie das geschehen soll? „Lob nach konzentrierter Arbeit“, so ist als schulische Maßnahme vermerkt. Und: „ruhiger Partner/Platz“. Dass das längst so praktiziert wird – ohne Erfolg – erfahren die Eltern dann in einem persönlichen Gespräch. Was zu tun ist? Achselzucken. Eigentlich, so heißt es seitens der Lehrerin, bräuchte Lena eine kleinere Klasse. Aber die gebe es nun einmal an der Schule nicht. Dann der Hinweis: Wenn die Leistungen nicht besser werden, muss Lena die 2. Klasse wiederholen.

Achselzucken

Aber: Würde das überhaupt etwas bringen? Oder würde es die Situation für Lena vielleicht sogar verschlimmern? Lena ist ein Pflegekind und als solches stark auf stabile soziale Beziehungen angewiesen – wie würde sich ein Herausreißen aus der Klasse bemerkbar machen? Schon körperlich wäre sie unter Jüngeren eine Außenseiterin. Die Schwierigkeiten scheinen in Mathematik weitaus größer zu sein als im Lesen und Schreiben – liegt vielleicht eine Dyskalkulie vor (die sich durch ein schlichtes Wiederholen des Stoffes auch kaum bessern dürfte)? Oder beruhen Lenas Konzentrationsprobleme auf ADHS?

Die Lehrerin weiß das alles nicht. Wie auch? Sie ist weder als Schulpsychologin ausgebildet noch als Kinderärztin oder Ergo-Therapeutin. Darüber hinaus besteht ihre Klasse aus 28 Schülern, darunter Flüchtlings- und Inklusionskinder. Wie soll eine Lehrkraft da auf die besonderen Lernschwierigkeiten eines einzelnen Kindes eingehen?

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Eltern, deren Kind Probleme beim Lernen hat, stehen in Deutschland meist ohne Hilfe da. Das ist kein Vorwurf an die Lehrerschaft – die ist nun mal zum Unterrichten da. Es ist eine Kritik an einer Schulpolitik, die bundesweit Lehrkräfte als „eierlegende Wollmilchsäue“ versteht und sie mit den sich häufenden Problemen einer zunehmend sich auseinander entwickelnden Gesellschaft alleine lässt.

Lehrer sollen Flüchtlings- und Einwandererkinder integrieren, sie sollen die Inklusion behinderter und verhaltensauffälliger Schüler bewerkstelligen, sie sollen zunehmende Erziehungsprobleme lösen, die Folgen eines überbordenden Bildschirmkonsums in den Kinderzimmern ausgleichen, sie sollen sexuellen Missbrauch in den Familien erkennen, für Chancengleichheit zwischen Arm und Reich sorgen, die Medienkompetenz ihrer Schüler in der digitalen Welt voranbringen. Und für den Fall, dass ein Lehrer mal beim Atemholen erwischt würde, gibt es bereits eine ganze Menge Forderungen auf Halde, was er sonst noch zu leisten hat: Ernährungsbildung, Berufsorientierung, Demokratieförderung … Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwer eine gute Idee für die Schule hat und in die Öffentlichkeit trägt.

Lehrkräfte werden knapp

Wohlgemerkt: Vieles davon ist sinnvoll, manches sogar sehr wichtig. Nur: Lehrer allein können es nicht leisten. Das galt bisher schon, gilt aber zukünftig noch mehr. Denn Lehrkräfte werden knapp. An den Grundschulen macht sich bereits ein dramatischer Lehrermangel bemerkbar. Bundesländer wie Hessen und Nordrhein-Westfalen versuchen schon verzweifelt, pensionierte Kollegen und Seiteneinsteiger für den Schuldienst (zurück) zu gewinnen. Selbst wenn das punktuell erfolgreich sein sollte, werden doch absehbar nicht mehr alle freiwerdenden Stellen besetzt werden können. Der Arbeitsmarkt gibt in den nächsten Jahren nicht mehr her. Das ist misslich. Aber darin liegt auch eine große Chance. Wenn nämlich die Politik endlich erkennt, dass Schulen heutzutage mehr Kompetenzen benötigen, als sie ein Lehrer qua Ausbildung mitbringt – und endlich multiprofessionelle Teams einsetzt.

Es gibt kein Krankenhaus, dessen Personal nur aus Ärzten besteht. Es gibt allerdings viele Schulen in Deutschland, deren Kollegium (wenn man mal von der Schulsekretärin und dem Hausmeister absieht) sich nur aus Lehrern zusammensetzt. Ansätze, das zu ändern, sind ja vorhanden: Mehrere tausend Stellen für Schulsozialarbeiter, immerhin, sind innerhalb der vergangenen zehn Jahre bundesweit geschaffen worden. Und in Brandenburg wurde jetzt ein Modellprojekt gestartet, bei dem Schulkrankenschwestern zum Einsatz kommen. So löblich das ist: Wieso braucht es einen jahrelangen, auf wenige Schulen begrenzten Versuch, um herauszufinden, was jeder schon vorher weiß (weil es in anderen Staaten seit Jahrzehnten üblich ist)? Dass nämlich Mitarbeiter, die sich um die Gesundheit von Kindern und Lehrkräften kümmern, eine wichtige Funktion in der Schule haben – schon allein deshalb, weil die Inklusion immer mehr auch chronisch kranker Kinder in die Regelschulen bringt.

Viele Helfer sind nötig

Nötig sind viele solcher Helfer für die Lehrkräfte: Schulpsychologen, die sich um die Diagnose von Lernschwierigkeiten kümmern, Ergo-Therapeuten, die mit betroffenen Kindern arbeiten, IT-Fachleute, die digitale Lerntechnik warten, Sozialpädagogen, die auch private Probleme von Schülern mit in den Blick nehmen können – und wenn solche Experten nicht an die Schule zu bekommen sind (weil die etwa zu klein ist), dann braucht es eben einen Koordinator, der zum Beispiel externe Stellen und die Eltern zusammenbringt, damit die Hilfe für das Kind gesteuert anlaufen kann. Ob Schulassistenten, Inklusionshelfer, Integrationsbeauftragte oder Erzieher – die Liste ließe sich leicht erweitern und sähe an jeder Schule vermutlich anders aus. Je nach Schülerschaft, je nach Bedarf eben.

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Aber wie steht es mit dem Geld? Das Bildungssystem ist doch ohnehin unterfinanziert, also dürfte es kaum Mittel für eine solche multiprofessionelle Schule geben – mögen Skeptiker einwenden. Dieses Totschlag-Argument hat sich allerdings erledigt. Denn die Ressourcen sind da. Lehrerstellen, die nicht mit Lehrern besetzt werden können, könnten doch auch mit Vertretern unterstützender Berufsgruppen besetzt werden. Außerdem sprudeln die Steuereinnahmen wie nie: Der deutsche Staat erzielte 2016 einen Überschuss von rund 40 Milliarden Euro. Wann also, wenn nicht jetzt?

Zurück in die Praxis. Für Lena gab es außerhalb des Unterrichts keine Unterstützung durch die Schule. Also machten sich die Eltern selbst auf den mühsamen Weg durch die Instanzen: vom Kinderarzt zum Schulpsychologen, von dort zur Ergo-Therapie, wo schon mal gezielt an der Konzentrationsleistung gearbeitet wird, und zu einem sozialpädiatrischen Zentrum, wo das Kind derzeit umfassend getestet wird – um dann, basierend auf einer fundierten Diagnose, gemeinsam mit seiner Lehrerin eine passende Förderstrategie zu finden (und beispielsweise die schlichte, aber entscheidende Frage zu klären, ob eine Wiederholung der zweiten Klasse sinnvoll oder kontraproduktiv wäre).

Viele andere Kinder in Deutschland, deren Eltern nicht die Kraft und die Möglichkeiten für ein solches Engagement aufbringen, haben hingegen Pech. Sie fallen allzu oft durchs Raster. Bildungsforscher bestätigen das – aktuell in der großangelegten Studie “Chancenspiegel”.

Agentur für Bildungsjournalismus

“Chancenspiegel”: Risikoschüler fallen in Deutschland immer noch zu oft durchs Raster – jeder achte Ausländer ohne Schulabschluss

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