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Der “Pinkel-Skandal” von München – oder: Warum Lehrer heutzutage allen Ernstes mit Klagen überzogen werden

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MÜNCHEN. Immer öfter ziehen Eltern gegen Lehrkräfte vor Gericht – und die Anlässe, weshalb geklagt wird, werden zunehmend nichtiger. Ein aktueller Fall aus München belegt das eindrucksvoll:  Ein Zehnjähriger nässt sich in der Klasse ein. So weit, so schlecht. Weil der Lehrer ihm jedoch zuvor verboten haben soll, auf die Toilette zu gehen, liegt nun gegen den Pädagogen eine Anzeige „wegen Körperverletzung im Amt und Nötigung“ vor. Mehr noch: Die Eltern wandten sich an die Boulevardpresse, die daraus eine Sensationsgeschichte machte. Und der Junge wurde, offenbar aufgrund des seelischen Drucks, der seit dem Geschehen auf ihm lastet, für drei Wochen krankgeschrieben.

Immer öfter muss sich Justizia mit dem Geschehen in der Schule beschäftigen. Foto: Pixelio

„Keine Pinkel-Pause! Lehrer angezeigt, weil er Ben (10) nicht aufs Klo ließ“, so titelt die „Bild“-Zeitung über der Geschichte. Und kann sich das anzügliche Wortspiel „Diese erzieherische Maßnahme ging in die Hose!“ nicht verkneifen. Die Mutter ließ sich mit dem Jungen für die Sensationsberichterstattung sogar fotografieren; die Bilder, auf denen der Zehnjährige gut zu erkennen ist, bleiben mit der dazugehörigen, auch für das Kind peinlichen Story für immer im Netz. Dafür breitet „Bild“ die mütterliche Version der Geschichte vorbehaltlos vor einem Millionenpublikum aus. „Fünftklässler Ben (10, Name geändert) saß am 16. Oktober 2017 im Klassenzimmer, als ihm während der Stunde die Blase drückte. Ben erzählt: ‚Ich habe den Klassenlehrer gefragt, ob ich pinkeln gehen darf. Er hat es mir verboten. Da ist es rausgeschossen.‘“ Schon da beschleichen den unvoreingenommenen Leser leise Zweifel, ob das so stimmt – ein gesunder Zehnjähriger, der nicht mal für einige Minuten einhalten kann?

Ist kein Anlass mehr zu nichtig, um einen Lehrer zu verklagen? Schüler-Handy übers Wochenende einbehalten – Prozess (und Freispruch)

Tatsächlich kann die Drucksituation noch nicht lange bestanden haben. Denn, aber das erfährt der Leser erst im weiteren Verlauf des Kleingedruckten: Der „Pinkel-Skandal“ (so nennt die mittlerweile auch in die Berichterstattung eingestiegene tz den Vorfall) ereignete sich ganze sechs Minuten nach der Unterrichtspause. Darauf soll auch der Rektor die Mutter hingewiesen haben, die sofort nach dem Geschehen in die Schule geeilt war. Auch der Schulleiter kommt in ihrer Version der Geschichte nicht unbeschadet davon: Er soll das Kind, als es aus dem Unterricht zu ihm geschickt worden war, sofort „angebrüllt“ haben, so behauptet sie. „Die Mutter reagierte auf das Toiletten-Verbot und die ganze Aufregung zornig: ‚Ich war außer mir‘“, so schreibt die tz. Und zitiert die Mutter weiter: „Ich möchte, dass sich so etwas nie mehr wiederholt. Auch bei anderen Kindern nicht. Natürlich habe ich meinem Sohn klargemacht, dass man solche Sachen in den Pausen erledigen sollte. Allerdings hat man auf biologische Vorgänge nur bedingt Einfluss.“

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Wochenlang krankgeschrieben

Der Junge wurde nach dem Geschehen offenbar aus psychologischen Gründen wochenlang krankgeschrieben – folgt man der Berichterstattung der “Brigitte”, dann ist das kein Wunder: “Der Zehnjährige leidet noch immer unter dem Erlebnis. Mit nasser Hose saß er vor den Mitschülern, die ihn auslachten, dann beim Rektor. Der soll den Jungen sogar noch angebrüllt haben. ‘Du bist ein Nichts’, habe der Pädagoge geschimpft”, so weiß die Frauenzeitschrift. Die Schule muss sich nun der Anzeige stellen. Auch die Schulaufsicht ist bereits eingeschaltet – und ein disziplinarisches Verfahren eingeleitet.  Der Fall wirft viele Fragen auf: Hätte die zweifellos unglückliche Situation nicht in einem persönlichen Gespräch zwischen allen Beteiligten geklärt werden können? Wie viel Zeit (und damit Ressourcen) von Justiz und Schulverwaltung binden die nun anlaufenden Verfahren? Gibt es überhaupt jemanden, der einen Nutzen von dem Streit hat – außer der „Bild“-Zeitung?

„Dann werden Sie schon sehen“: Wie Eltern Lehrer unter Druck setzen – ein Verbandsjurist berichtet

Immer öfter werden Lehrer von Eltern juristisch unter Druck gesetzt. Selbst Banalitäten wie der Sitzplatz des Kindes in der Klasse sind für manche Väter und Mütter mittlerweile Anlass, mit dem Anwalt zu drohen. Die Rechtsabteilung des größten bayerischen Lehrerverbandes – BLLV – mit 60.000 Mitgliedern weiß hiervon ein Lied zu singen. „Genügten vor 20 Jahren ein bis zwei Rechtsvertreter, um die schulischen Rechtsprobleme von Lehrern zu lösen, so ist diese Abteilung heute die größte Abteilung des Lehrerverbandes und mit 17 Personen besetzt, davon sechs Volljuristen“, so berichtet Hans-Peter Etter, der Leiter der BLLV-Rechtsabteilung. „Die meisten einlaufenden Rechtsfälle sind durch Eltern initiiert, seien es Elternbeschwerden, Dienstaufsichtsbeschwerden, Strafanzeigen, Widersprüche und Klagen gegen Lehrer.“

“In seiner Ehre verletzt”

Beispiele gibt es zuhauf. Vor einem halben Jahr musste sich ein Pädagoge einer Berliner Schule vor dem Verwaltungsgericht der Bundeshauptstadt verantworten. Er hatte einem Schüler ein störendes Handy weggenommen und über das Wochenende einbehalten – rechtmäßig, wie der Richter entschied. Es wies damit eine Klage des Schülers und seiner Eltern ab. Bizarr wirkt die Begründung der Erziehungsberechtigten für den Gang zum Gericht: Die Maßnahme habe ihren Sohn “in seiner Ehre verletzt und gedemütigt”.

Vor einem Jahr machte der Fall eines Musiklehrers bundesweit Schlagzeilen, der einer Klasse eine Stillarbeit aufgegeben hatte – und am Ende der Stunde nur Schüler aus dem Klassenraum ließ, die die Arbeit erledigt hatten. Um das kontrollieren zu können, hatte sich der Pädagoge mit seinem Stuhl quer vor die Klassentür gesetzt. Ein Schüler rief per Handy die Polizei. Der Lehrer wurde wegen Freiheitsberaubung zunächst verurteilt. Erst in zweiter Instanz gab’s einen Freispruch – und einen passenden Kommentar des Richters: „Es ist doch fraglich, ob es Sinn macht, so etwas zu verfolgen.“ bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

Lehrer wegen Freiheitsberaubung seiner Schüler verurteilt. Berufungsgericht kippt Skandal-Urteil – Freispruch

 

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