Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber ANDREJ PRIBOSCHEK.
Als die erste PISA-Studie 2001 veröffentlicht wurde, verursachte sie einen Schock in Deutschland. Das vermeintliche „Land der Dichter und Denker“ landete im internationalen Bildungsvergleich nur im Mittelfeld. Was Experten allerdings weitaus mehr erschütterte als die mäßigen Rangplätze im Ranking der OECD-Staaten, das war eine international einmalige Leistungsspreizung: Rund 23 Prozent der Schüler in Deutschland erfüllten seinerzeit die Mindeststandards in der Königsdisziplin Lesen nicht. Damit, so schlussfolgerte die Studie, „ist der Anteil schwacher und schwächster Leser in Deutschland ungewöhnlich groß“. Und der Zusammenhang zwischen sozialem Status und Bildungserfolg war so eng wie in keinem anderen Industrieland.
“Ein trauriger Befund”
Heute, 16 Jahre später, wurde die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) veröffentlicht. Und welcher Befund fällt als erstes ins Auge? 18,9 Prozent der Viertklässler in Deutschland sind kaum in der Lage, Verständnisfragen zu einfachen Texten zu beantworten. Zudem: Der Anteil der Kinder, die gerne lesen, ist seit 2001 um 5 Prozentpunkte auf rund 70 Prozent gesunken. „Das ist an sich ein trauriger Befund“, befand der Studienautor Prof. Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund. Es kommt aber noch dicker: Gestiegen ist laut IGLU auch die soziale Spaltung bei den Bildungschancen. 2001 war die Chance auf eine Gymnasialempfehlung für Kinder aus oberen Schichten 2,6 Mal so hoch wie bei sozial schwächeren Elternhäusern. 2016 war diese Chance 3,4 Mal so hoch.
Reaktionen auf die IGLU-Studie: GEW und VBE fordern mehr Geld für die Grundschulen
Heißt: Bei den gravierendsten Bildungsproblemen in Deutschland hat sich in den vergangenen 15 Jahren praktisch nichts bewegt. Nach wie vor gibt es zu viele schwache Schüler. Und nach wie vor ist das Elternhaus die nahezu allein entscheidende Instanz beim Schulerfolg. Einige positive Entwicklungen, die es in der Zwischenzeit ja durchaus gab, sind versandet – zerrieben in bildungspolitischem Aktionismus wie der Schulzeitverkürzung G8 oder der großflächigen Einführung einer Ganztags(grund)schule, die zwar dem Betreuungsbedarf von Eltern entgegenkommt, aber nur selten etwas mit Förderung zu tun hat. Es muss halt immer das Billigste sein, weshalb das Personal für den Ganztag genauso wenig kosten darf (kommunale Erzieher lassen sich ja mit Elternbeiträgen bezahlen) wie die Inklusion, die als brutales Sparmodell über die Schulen kommt.
Der verheerende Zustand der Schulgebäude in Deutschland, geschätzt wird ein Investitionsstau von 34 Milliarden Euro, steht sinnbildlich für die Ruine „Bildungsrepublik Deutschland“. Die nächste Luftnummer zeichnet sich schon ab: die „Digitale Bildung“. Allen Ernstes wird von den Lehrerkollegien erwartet, dass sie sich selbst um die Technik kümmern sollen – noch nie hat ein Politiker erklärt, dass dafür an jeder Schule die Stelle eines Spezialisten geschaffen werden muss, der sich um den Aufbau und die Wartung des Systems kümmert. Man stelle sich das in der Wirtschaft vor: Ein Unternehmen mit 800.000 Mitarbeitern (das wäre ein Weltkonzern) digitalisiert seinen Betrieb und stellt seinen Kräften die noch eingepackten neuen Geräte hin mit der lapidaren Bemerkung: „Nun vernetzt Euch mal schön!“ Absurd? Nicht in der „Bildungsrepublik Deutschland“.
Die hatte die Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder 2008 vollmundig ausgerufen. Die Bilanz fällt, klar, ernüchternd aus – vor allem im wichtigsten Vorhaben, der angekündigten Halbierung der Zahl der Schulabbrecher nämlich. Die Quote sank tatsächlich nur von 7,4 auf 5,9 Prozent (2015). Rund 50.000 Schüler verlassen nach wie vor jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Auch die Quote der Menschen ohne Berufsabschluss konnte nicht wie geplant gesenkt werden. Laut OECD haben 13 Prozent der Menschen in Deutschland zwischen 25 und 34 weder Abitur noch Berufsabschluss. Und wer sich die aktuelle IGLU-Studie anschaut, muss befürchten: Die Zahl wird auf absehbare Zeit eher größer, nicht kleiner.
Gisela Grimme, Leiterin der mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichneten Elisabeth-Selbert-Berufsschule in Hameln, platze unlängst der Kragen – angesichts von Lehrermangel, Raumproblemen und Ausstattungsmängeln, die auch ihre Schule zu spüren bekommt. „Es ist zum verrückt werden“, sagte Grimme. „Ich weiß nicht, warum dieses Land es nicht versteht, wie wichtig Bildung ist.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.