Eine aktuelle Studie der US-amerikanischen Bildungsforscher Judith D. Singer von der Harvard University und Henry I. Braun vom Boston College legt nahe, dass die Realität komplexer ist, als sie internationale Schulvergleiche wie PISA darstellen. Auch aus Deutschland kommt Kritik aus profunder Quelle: Der Bildungswissenschaftler Prof. Eckhard Klieme, Leiter des deutschen Teils der PISA-Studie 2009, meint, die OECD interpretiere zu viel in die PISA-Dateien hinein – aus politischen Gründen.
Schon seit der vorletzten PISA-Studie konnte man glauben, Südostasien habe in Sachen Bildung den Stein der Weisen gefunden – Shanghai, Singapur, Hong Kong, Taiwan, Südkorea, Macau und Japan stehen seitdem auf Spitzenplätzen der Tabelle, und das trotz zum Teil schlechterer Bedingungen für den Unterricht als in Deutschland (wie größeren Klassen).
Zugegeben: Dass das asiatische Modell stark auf Drill und Dauerpauken setzt und deshalb, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt auf Deutschland übertragbar ist, wurde sofort gemutmaßt. Ein Fortbildungstourismus von Bildungsfachleuten nach Asien (wie seinerzeit zu den früheren PISA-Spitzenreitern Finnland und Kanada) blieb jedenfalls aus. Und trotzdem gelangten Elemente asiatischer Pädagogik nach Europa. So habe Großbritannien eine in Shanghai und Hong Kong übliche Mathematik-Methode namens „Mastery“ flächendeckend an Grundschulen eingeführt, berichten Singer und Braun, wie der „Tagesspiegel“ berichtet.
Dabei könnte der Erfolg insbesondere der chinesischen Stadtstaaten auf der falschen Grundgesamtheit beruhen, der der Stichprobe der zu testenden Schüler zugrunde lag: Ein Viertel der Schülerschaft wurde gar nicht erfasst, wie später herauskam – die Ergebnisse sind weitgehend wertlos.
Auch für andere unterentwickelte OECD-Länder ist PISA-Studie offenbar nicht repräsentativ, stellen die Wissenschaftler fest. Denn zum Beispiel in Mexiko oder der Türkei geht fast die Hälfte der 15-Jährigen, die bei PISA ja getestet werden, gar nicht mehr zur Schule. Diese bildungsfernen Jugendlichen können also ins OECD-Ranking, für das Jugendliche in Schulen getestet werden, gar nicht einfließen.
Relevanter für das Abschneiden deutscher Schulen bei PISA und Co. mit Blick auf das obere Tabellendrittel ist jedoch ein anderer Aspekt: Die Testergebnisse würden massiv von Faktoren beeinflusst, die außerhalb der Schule liegen, heißt es. So beruhe der Bildungserfolg asiatischer Schüler nicht selten auf einem gigantischen Nachhilfesystem, das insbesondere bei der Vorbereitung auf Prüfungen zum Einsatz komme. Im Tigerstaat Korea zum Beispiel lässt sich ein großer Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt solchen privaten Investitionen zuordnen. Auch die Kultur spielt offenbar eine Rolle: So würden asiatische Schüler darauf gedrillt, sich bei Tests anzustrengen (während deutsche Schüler womöglich ohne die Aussicht auf gute Noten nicht besonders motiviert an die Tests herangehen?).
Mögliches Fazit: Viele PISA-Erfolge der Schüler sind gar kein Effekt des staatlichen Bildungssystems. Entsprechend gering erscheint der Erkenntniswert. Die Vergleichsstudien erlauben jedenfalls nicht die Schlüsse, die die OECD daraus zieht – meint Eckhard Klieme in der „Zeit“.
So lasse sich aus PISA kein konkreter Maßnahmenkatalog dafür ableiten, wie das Kompetenzniveau an einer Schule „nachhaltig zu befördern“ sei. Genau das aber versuche die OECD. „Auch an anderen Stellen versucht sie, Einfluss auf die Schulpolitik der PISA-Teilnehmerstaaten zu nehmen.“ So gehe etwa der massive Ausbau der Ganztagsschulen auf eine solche Überinterpretation seitens der OECD zurück.
“Neue schillernde Etiketten”
Kritik übte Klieme auch an einer PISA-Sonderauswertung zum Thema Resilienz, die OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher unlängst präsentiert hatte. Auch hier überinterpretiere die OECD ihre PISA-Daten: „Sie stellt im Kern bereits bekannte Befunde dar und versieht sie mit neuen schillernden Etiketten, interpretiert Daten teilweise fehlerhaft und zieht gewagte Schlussfolgerungen“, meint Klieme. So werde ein „positives Schulklima“ als Erfolgsfaktor erwähnt, das die OECD aber lediglich als störungsfreien Ablauf des Unterrichts definiere. Klieme schreibt dazu: „Ein ‘positives Schulklima’ im Sinne guter Lehrer-Schüler-Beziehungen ist etwas anderes als Disziplin im Klassenraum.” Zudem sei schon lange bekannt, dass ein störungsfreier Unterricht eine wichtige Grundlage für erfolgreiches Lernen sei – nicht zuletzt die Hattie-Studie hat ein konsequentes Classroom-Management durch den Lehrer, also eine aktive Steuerung des Unterrichts, als wesentliches Qualitätsmerkmal ausgemacht.
Überhaupt – Singer und Brown bezweifeln den Sinn des Länderrankings bei PISA. So gebe es bei den Konfidenzintervallen, also im Bereich großer statistischer Sicherheit, starke Überlappungen, die die abgebildete Rangfolge nicht rechtfertigten. Beispielsweise lag Kanada in Mathematik zuletzt auf Platz 10, obwohl es unter Berücksichtigung der statistischen Fehlerwahrscheinlichkeit praktisch ebenso gut auf Platz 7 (Korea) oder Platz 16 (Deutschland) liegen könnte.
Schleicher selbst nahm die Kritik der beiden US-Bildungsforscher übrigens gelassen hin. Er erkärte gegenüber dem “Tagesspiegel”: „Das ist eine sehr gute Studie, über die ich mich freue. Sie gibt uns viele Ansatzpunkte zur weiteren Entwicklung.“ Im Kern gehe es dabei um „technische Aspekte“, die lösbar seien. Große methodische Herausforderungen sehe er allerdings bei den emotionalen und sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Diese würden im Berufsleben immer wichtiger – seien aber schwer zu messen. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
