FRANKFURT. Nahezu unbeachtet hat sich in Deutschland in den letzten Jahrzehnten ein zentraler Ort der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen verlagert. Der heimische Mittagstisch hat in vielen Familien ausgedient, immer mehr Kinder nehmen ihre Mittagsmahlzeit in der Schule ein. Dreht sich die öffentliche Diskussion zum Schulessen hauptsächlich um Fragen der Gesundheit und geschmacklichen Qualität, ist die schulische Verpflegung zugleich mit pädagogischen Erwartungen und Zielen aufgeladen. Was beim Schulessen tatsächlich passiert, haben Frankfurter Wissenschaftler beobachtet.
Für Lotte Rose steht fest: Das Schulessen steht unter öffentlicher Beobachtung, seit immer mehr Kinder in Deutschland mittags in der Schule verköstigt werden. „Regelmäßig gibt es skandalisierende Medienmeldungen zu Preisdruck, schlechter Gesundheits- und Geschmacksqualität der Verpflegung, geringen Nutzungszahlen und Kritik an der Versorgung durch industrielle Groß-Caterer“, so Rose. Erst im Frühjahr dieses Jahres kam es in Frankfurt am Main zu einem öffentlichen Schüler-Protest, als in einer Schule ein kleiner Gastronomie-Betrieb, der dort jahrelang zur Zufriedenheit aller gekocht hatte, durch den weltweit agierenden Konzern Sodexo ersetzt wurde.
„Gleichzeitig sind staatlicherseits die Bemühungen groß, die Verpflegungsqualität zu optimieren und Schulverpflegung als Gesundheitserziehungsmaßnahme zu nutzen“, betont Rose, Essens- und Körperforscherin an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS). Qualitätsstandards für Menüpläne und Küchenhygiene sind von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung definiert, Vernetzungsstellen für Schulverpflegung in den Bundesländern sollen Schulen bei der Umsetzung helfen. 2016 richtete das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft das Nationale Qualitätszentrum für Ernährung in Kita und Schule (NQZ) ein, das koordinierende und beratende Aufgaben für die Gemeinschaftsverpflegung in pädagogischen Einrichtungen auf Bundesebene hat. Fortlaufend erfassen Evaluationen Rahmenbedingungen, Gesundheitsqualität und Kundenzufriedenheit des Schulessens.
Studie: Gesundes und hochwertiges Schulessen muss gar nicht teurer sein
Wenig Aufmerksamkeit gibt es jedoch bislang dafür, was das Schulessen eigentlich für junge Menschen bedeutet. Was erleben Schüler in der Mensa, wie eignen sie sich diesen Raum an. Was tun sie miteinander und mit den Speisen und welche Rolle spielen bei alledem die erwachsenen Fachkräfte? Diesen Fragen ging Rose gemeinsam mit Rhea Seehaus in einem ethnografischen Forschungsprojekt nach, dessen Ergebnisse nun veröffentlicht wurden. Ziel war, den profanen Praxisalltag empirisch zu erfassen und das akribisch zu beschreiben, was sich in den Verpflegungssituationen als soziale Routinen vollzieht.
An sechs Schulstandorten dokumentierten die Wissenschaftler von 2011 bis 2014, was Speisen, Räume und Möbel als ‚stumme Akteure‘ des Schulessens mit Schülern ‚machen‘ und wie sich Schüler mit ihnen arrangieren und sie kreativ ‚umnutzen‘. Eine große Rolle haben hierbei Spieltätigkeiten eingenommen. Das Spielrepertoire umfasste dabei den gesamten Fundus der klassischen Kinderspiele wie Sprach-, Klatsch- und Singspiele, Fantasie- und Rollenspiele, aber auch Spiele mit Tischgegenständen und Körper- und Bewegungsspiele.
Zudem wurde auch das Essen selbst zur Spielressource. so haben die Kinder beispielsweise ausprobiert, wer wieviel in welcher Geschwindigkeit verschlingen konnte, ob eine Kartoffel auch ohne Kauen runtergeschluckt werden kann oder wann der Hähnchenknochen bricht. Speisen werden auf dem Teller ‚umgearbeitet‘, z.B. beim Zermatschen der Kartoffeln mit Ketchup, oder sie werden gänzlich ungenießbar gemacht, z.B. durch Verunreinigungen.
Beobachtet wurden zudem die Konversation am Tisch sowie Konflikte in der Peergroup und zwischen den Generationen. „Die Frage, wer wo mit wem beim Mittagessen sitzt, erweist sich als hochrelevant und gleichzeitig als diffizile Herausforderung. In kürzester Zeit müssen schließlich Tischpartner/-innen gefunden, Stühle und Tische reserviert und gleichzeitig das Essen organisiert werden – eine sozial stressende Situation, die jeden Tag neu bewältigt werden muss“, betont Rose.
Die Forschungsgruppe hat auch untersucht wie Gesundheit als normative Leitfigur des Schulessens argumentativ ‚aufgestellt‘ und was aus dieser Leitfigur im banalen Praxisalltag des Schulessens wird. So sei feststellbar, dass das Gebot des Wassertrinkens erfolgreich durchgesetzt ist, das Gemüse als Gesundheitssymbol aber zwischen den Generationen sozial umkämpft blieb. Kinder verweigern sich, während Erwachsene sich alle Mühe geben, die Kinder davon zu überzeugen, das Gemüse zu essen.
Symptomatisch seien zwei Formate des Schulessens: Es gebe zum einen das von Erwachsenen betreute Essen an einer gemeinsamen Tafel für die Jüngeren, zum anderen das kantinenförmig organisierte Mensa-Essen für die Älteren. Das erste Format ist stark bestimmt durch das Ideal des kollektiven Mahls nach bürgerlich-familialem Vorbild. Dazu gehört das Händewaschen vor dem Essen, die gemeinsame Versammlung am Tisch, das Auftragen der Speisen in großen Schüsseln, aus denen sich die Einzelnen selbst bedienen, der gemeinsame Beginn des Verzehrs nach einem kollektiven Ritual und ein geregeltes Ende der Mahlzeit.
Erwachsene überwachen hier engmaschig und relativ streng Sitte und Anstand am Tisch. Sie weisen an, mahnen, rufen zur Ruhe auf, regulieren die Konversation, sanktionieren und animieren zum Essen, wenn die aufgetischte Speise nicht schmeckt.
Die Mensa folge demgegenüber einem individualisierteren und liberaleren Modus. Die erwachsenen Betreuungspersonen hätten sich hier zurückgezogen und sicherten nicht mehr die Gemeinsamkeit des Essens ab. Vielmehr seien Schüler sich selbst überlassen, was die Gestaltung des Essens betrifft. Es fänden sich zwar noch Essensgruppen zusammen, aber alles sei informeller. Man kommt und geht, beginnt zu essen, wenn man seinen Platz hat, steht auf, wenn man will. Auch die Manieren sind unkonventioneller: Es wird gespielt, gestritten, geärgert, gealbert, geschrien, Essen wird verschenkt, geteilt, geklaut, verunreinigt oder auf dem Teller zurückgelassen.
„Während bei den Jüngeren noch viel institutioneller Aufwand betrieben wird, bürgerliche Essenserziehung und ein gesittetes Mahl abzusichern, wird den Älteren ein kontrollfreier und deregulierter Essensraum zugestanden, dessen Organisationsform pragmatisch der Konsumlogistik der Betriebskantine folgt. Erzieherische Ansprüche sind hier verschwunden. Die Jüngeren erscheinen als unzivilisierte Wesen, die deshalb der strengen Führung beim Essen bedürfen. Den Älteren wird demgegenüber unterstellt, dass sie über die entsprechenden Selbststeuerungskompetenzen bereits verfügen und von daher keiner Reglementierungen beim Essen mehr bedürfen“, erklärt Rose, wobei sie sich die Frage stelle, ob Schule vielleicht auch einfach nur der beständigen Disziplinarprozeduren „müde“ ist und die Älteren deshalb beim Essen in die „Freiheit“ entlässt?
„Die Ergebnisse des Forschungsprojektes wurden von uns in einem Buch vorgelegt. Entstanden ist eine umfassende ethnografische Sozialreportage zu den Vorgängen beim Schulessen, die nicht evaluieren, sondern schlicht erzählen will von dem, was sich an den Ausgabetheken und Tischen ereignet. Unser Anliegen ist, dafür zu sensibilisieren, dass Schulessen sehr viel mehr und anderes ist als ein nutritives Verpflegungsereignis“, betont Rose. (zab, pm)
