BERLIN. Angesichts der Schülerproteste gegen ein angeblich zu schweres Mathe-Abitur in etlichen Bundesländern hat die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, Prof. Susanne Lin-Klitzing, eine Standortbestimmung für die Hochschulreife gefordert. “Die gesellschaftliche Funktion des Abiturs ist neu zu bestimmen”, sagte sie. Der Ehrenvorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, bezeichnete unterdessen in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk die Proteste und Petitionen als “Affenzirkus der Generation Schneeflocke”.
Die Gesellschaft erwarte zu Recht ein anspruchsvolles Abitur, meint Lin-Klitzing. Aber: Was es leiste und zukünftig leisten solle, sei eine gesellschaftliche Festlegung. „Die einzelnen Akteure müssen neu zusammengebracht werden”, fordert die Philologen-Chefin. „Die verschiedenen Interessen der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Lehrkräfte am Gymnasium und nicht zuletzt der jungen Generation, die jetzt gerade aufbegehrt, müssen neu abgestimmt werden! Da geht es um mehr als um Kritik an einzelnen Aufgaben des Matheabiturs!”
Studierfähigkeit sei eine der Voraussetzungen, die moderne Gesellschaften sichern müssten, um ihren eigenen wissenschaftlichen Fortbestand zu gewährleisten. Die Gesellschaft artikuliere hier ihre Erwartungen an ihren Nachwuchs. Doch zu viele Fragen seien offen: In welchem Umfang sollen Abiturienten allgemeines und gesellschaftlich anschlussfähiges Wissen haben? Auf welchem Niveau sollen sie Positionen einnehmen, sie argumentativ vertreten und auch wieder infrage stellen können? Oder sollen sie primär funktionsgerecht in ein bestehendes Wettbewerbssystem integrierbar sein?
Diese Fragen, die im Zusammenhang mit der Konzeption und Qualitätssicherung des Abiturs gestellt werden müssten, seien in der Vergangenheit nicht breit genug diskutiert worden – was die aktuelle Debatte um den Schwierigkeitsgrad von Mathe-Aufgaben im Zentralabitur zeige. Die isolierten Erwartungen der einzelnen Akteure müssten offen artikuliert und überwunden werden, um endlich ein gesellschaftlich breit anerkanntes Leitbild zu erhalten. Die Erwartung des Philologenverbands gab die Vorsitzende schon mal mit: „Absolventen des Gymnasiums sollten auf jeden Fall in der Lage sein, an einer Hochschule mit Erfolg zu studieren.”
“Schüler nicht in Watte packen”
Allein in Bayern haben mittlerweile rund 55.000 Menschen eine Online-Petition unterschrieben, in der gefordert wird, den Notenschlüssel des Mathematik-Abiturs zu senken „und dem Schwierigkeitsgrad anzupassen“. „Lächerlich!“, meint dazu Josef Kraus laut BR-Bericht. „Wir haben in Bayern 37.000 Abiturienten, aber 55.000 haben unterschrieben – das ist eine typische Reaktion der Generation Schneeflocke.”
Die Schüler seien es nicht mehr gewohnt, sich durchzubeißen, meint der pensionierte Leiter eines Gymnasiums in Bayern. Der Nachwuchs sei in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend geschont worden. „Mathematik aber ist ein wichtiges Fach, das muss man üben.” Die Tatsache, dass jede Hochschule mittlerweile Mathematik-Nachholkurse anbiete, zeige, dass „die jungen Leute nichts mehr draufhaben!“, so Kraus. Die Welle der Schülerproteste gegen das Mathe-Abitur, die mittlerweile durch alle Bundesländer läuft, die sich am zentralen Aufgabenpool bedient haben, stellt für Kraus eine „aufgesetzte Hysterie” dar.
Kraus fordert das bayerische Kultusministerium und alle Schulen dazu auf, konsequent zu bleiben und den Schülern damit zu zeigen: „Ihr müsst das können, sonst seid ihr nicht studierfähig. Die Schüler müssen sich daran gewöhnen, dass das nicht geht. Wir können die Schüler nicht bis ins 20. Lebensjahr in Watte packen.” Der bayerische Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) hat – wie auch andere Landesbildungsminister – angekündigt, die Aufgaben prüfen lassen zu wollen.
Verständnis für die Proteste
Der Brandenburgische Pädagogenverband (BPV) äußerte mittlerweile Verständnis für die Schülerproteste. “Das Abitur war zu umfangreich, zu unterrichtsfremd und an manchen Stellen bei Fragestellungen ungeschickt formuliert», sagte Präsident Hartmut Stäker. Er ist selbst Mathematik-Lehrer und Zweitkorrektor bei den Prüfungen (hier geht es zum dazugehörigen Bericht). News4teachers
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