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“Die Zahlen verhaltensauffälliger Kinder steigen signifikant”: Kirchlicher Träger schlägt angesichts der “Kita-Katastrophe” Alarm

WIESBADEN. Die Personalnot in den Kitas wird immer schlimmer. Sie hat ein so dramatisches Ausmaß angenommen, dass die Mehrzahl der Einrichtungen zumindest teilweise in so großer personeller Unterdeckung arbeiten muss, dass die gesetzlichen Vorgaben zur Aufsichtspflicht nicht mehr erfüllt werden können (wie eine Studie im April ergab, News4teachers berichtete darüber). Gebessert hat sich die Lage seitdem nicht – im Gegenteil: Zehntausende von Flüchtlingskindern aus der Ukraine wurden noch zusätzlich aufgenommen. Was das in der Praxis bedeutet, macht ein offener Brief anschaulich, den das Evangelische Dekanat Wetterau, Träger von 14 Kindertagesstätten, an Hessens Sozialminister Kai Klose (Grüne) geschickt hat. Wir dokumentieren das  Schreiben im Wortlaut.

“Zeit fürs Kind bleibt in all dem wenig.” (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

„Sehr geehrter Herr Minister Kai Klose,

es ist nicht der übliche Weg, sich in Form eines offenen Briefes in KiTa-Angelegenheiten an einen Landesminister zu wenden. Und es ist in unserer Zeit auch nicht üblich, sich als Träger von 14 Einrichtungen in dieser Offenheit an die Politik zu wenden. Es macht uns angreifbar. Sie als verantwortlichen Minister, mich als Verantwortlichen für Personal, Einrichtungen und die Kinder in unseren Einrichtungen.

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Ich gehe das Risiko ein, weil ich weiß, dass es allen Trägern von Kindertagesstätten in Hessen ähnlich oder gleich geht; weil ich als Dekan der evangelischen Kirche stellvertretend für andere sprechen kann, ohne Sorge haben zu müssen, dafür bei der nächsten Bürgermeisterwahl oder von der politischen Opposition abgestraft zu werden; und weil die evangelische Kirche in den zurückliegenden Jahrzehnten bewiesen hat, dass sie KiTa-Arbeit gut kann.

Aber wir alle können es nicht mehr unter diesen Bedingungen. Wir können nicht länger zusehen, wie die gesamte Situation auf dem Rücken der Kinder, ihrer Eltern und der Mitarbeitenden ausgetragen wird. Wir müssen sie alle in diesem System schützen. Darum spreche ich es jetzt aus: Unter den gegenwärtigen Bedingungen ist die Arbeit mit den Kindern in unseren Kindertagesstätten weder leistbar noch verantwortbar. Und sie entspricht nicht mehr den Grundsätzen und Prinzipien, wie sie im Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder des Landes Hessen formuliert werden.

Eine KiTa-Leitung oder ErzieherIn sieht sich den Vorwürfen und Forderungen von 20 oder 25 Eltern ausgesetzt. Und das seit Monaten und ohne Unterbrechungen

Und das ist nicht die Schuld der ErzieherInnen oder der Träger. Das ist ein Systemfehler, dem ein Systemversagen zu folgen droht! Bereits 2013, mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen KiTa-Platz für Kinder ab dem 1. Lebensjahr, war absehbar, dass dieser in der Realität nicht einzulösen sein würde. Schon damals fehlten erkennbar die nötigen Fachkräfte.

Mit diesem Rechtsanspruch aber hat sich nicht selten gleichzeitig der Druck von Arbeitgebern auf junge Familien erhöht: Die allermeisten Lebensentwürfe junger Familien fußen auf zwei Einkommen – regelmäßig, dauerhaft, steigend. Nachvollziehbar! Die Erwartung, möglichst schnell wieder ins Arbeitsleben eingegliedert zu werden, ist heute jedoch für viele zur nackten Existenzangst geworden. Junge Familien fürchten um ihre Existenz, wenn sie keinen KiTa-Platz für ihr Kind bekommen. Wir stecken heute bereits mitten in der „KiTa-Katastrophe“.

Ich möchte Ihnen kurz erklären, was ich meine: Der Fachkräftemangel ist keine zu erwartende Größe für 2025 oder 2030. Er ist heute Realität. Wir erleben ihn Tag für Tag. Und noch immer halten Sie mit der Landespolitik an geradezu grotesk anmutenden Fachkräfteschlüsseln fest und beabsichtigen diese auch weiterhin zu verschärfen. Die restriktive Politik der Nicht-Anerkennung von Nicht-Fachkräften erschwert den Alltag in den KiTas vor Ort zusätzlich. Die Folgen: Gruppen werden mit Mindestbesetzung irgendwie noch offen gehalten.

Mancherorts gelingt aber auch das nicht mehr. Dann kürzen wir den Betrieb auf Betreuungszeiten, die weder pädagogisch sinnvoll noch für die jungen Familien hilfreich sind. Oder wir müssen ganze Gruppen schließen. Weil keine Fachkräfte da sind. Und weil der Fachkraftschlüssel – der ja in der Theorie durchaus eine gute Absicht verfolgt und den wir auch grundsätzlich im Sinne einer entwicklungsfördernden Pädagogik befürworten – nicht zu halten ist!

Immer mehr Kommunen schaffen die Möglichkeiten von Tarifzulagen. So absurd es klingt: Einzelne kommunale Vertreter nehmen die kurze Zeit ihres Lohnvorteils gegenüber freien und kirchlichen Trägern zum Anlass, dort Fachkräfte abzuwerben. Man schöpft von einem Eimer des Mangels das Wasser in den anderen Eimer des Mangels.

Aber: Geld ist nicht alles, was einen Beruf attraktiv macht! Seit zweieinhalb Jahren arbeiten unsere MitarbeiterInnen unter Coronabedingungen. Und sie machen einen grandios guten „Job“! Doch neben den fehlenden KollegInnen kommt seit dieser Zeit die Sorge um die eigene Gesundheit und der Druck von Teilen der Elternschaft hinzu.

Das alles geht tatsächlich mehr und mehr zulasten der Gesundheit der ErzieherInnen. Ein Elternteil steht einer Leitung gegenüber. Doch eine KiTa-Leitung oder ErzieherIn sieht sich den Vorwürfen und Forderungen von 20 oder 25 Eltern ausgesetzt. Und das seit Monaten und ohne Unterbrechungen. Und der Ton wird rauer. Unter den Eltern, zwischen Eltern und ErzieherInnen und zwischen Eltern und Trägern. Eltern neiden anderen Eltern den Platz ihrer Kinder, Eltern bringen nachweislich kranke Kinder in Einrichtungen und ErzieherInnen müssen sie zurückweisen. Eltern lassen Träger ihren Unmut angesichts der Gesamtsituation spüren, die Ihre Politik verantwortet.

Die Kinder, die wir heute in den Einrichtungen betreuen, bekommen unter diesen Bedingungen nicht mehr die pädagogische Zuwendung, die Kinder vor 5 oder 10 Jahren noch bekommen haben. Nicht, weil wir es nicht wollen. Wir haben tolle ErzieherInnen! Aber wir schaffen es in diesem Rahmen nicht mehr! Vielerorts geht es nur noch darum, den Betrieb irgendwie normal aufrecht zu erhalten.

Aber ich frage mich (und Sie): zu welchem Preis? Wir befinden uns in einer KiTa-Abwärtsspirale: Es gibt zu wenige Fachkräfte auf dem Markt, was zu Personalmangel führt. Die verbleibenden Fachkräfte sind erschöpft, werden krank oder wechseln den Träger mit der Hoffnung, bessere Rahmenbedingungen zu finden, was den erneuten Fachkräftemangel in anderen Einrichtungen nach sich zieht.

Je länger der Druck dieses versagenden Systems auf den ErzieherInnen lastet, umso mehr ist zu befürchten, was sich jetzt bereits beginnt abzuzeichnen: dass wir in wenigen Monaten an vielen Stellen einen Totalausfall erleben werden. Zum Fachkräftemangel und den Coronawidrigkeiten wird massenhafter Burnout hinzukommen. (Von der Möglichkeit oder der Verpflichtung – und der ganz sicher richtigen Notwendigkeit! – die Kinder von Geflüchteten aufzunehmen, will ich an dieser Stelle gar nicht mehr reden… Wie stellen Sie sich das vor?!)

Zeit fürs Kind bleibt in all dem wenig. Und damit komme ich auf „das Wichtigste“ zu sprechen: unsere Kinder! Ich habe noch nicht über die Folgen dieser billigend oder fahrlässig in Kauf genommenen Situation fürs Kind gesprochen. Wir haben heute Kinder in unseren Einrichtungen, die z. T. keine andere Wirklichkeit als die eines Lebens unter den Bedingungen von Corona kennen. Das heißt, sie erleben Isolation, fehlende Sozialkontakte, die Warnung vor Nähe und die Existenzängste ihrer Eltern als das sie frühkindlich-prägende Umfeld.

Sollte es nicht möglich sein, jetzt die politische Verantwortung dafür zu übernehmen, dass sich das Leben der Kinder von heute in den kommenden Jahren gut entwickeln und entfalten kann?!

Die Zahlen „verhaltensauffälliger“ Kinder in KiTa- Einrichtungen steigen signifikant. Und es schmerzt mich zu sehen, dass dies von Seiten der Fachaufsichten wohl wahrgenommen wird, aber auf politischer Seite ebenfalls unbeachtet bleibt. Ich frage mich, ob Ihnen klar ist, welche Aufgaben auf uns als Gesellschaft künftig zukommen, wenn hier nicht schnell und nachhaltig gehandelt wird?!

Und: Sollte es nicht möglich sein, jetzt die politische Verantwortung dafür zu übernehmen, dass sich das Leben der Kinder von heute in den kommenden Jahren gut entwickeln und entfalten kann?! Auch wenn Sie dann vielleicht nicht mehr zur Wahl stehen, und ich möglicherweise die Pensionsgrenze erreicht habe, – müsste nicht dringend das Wohl und das Potential dieser kleinen Menschen heute bereits in den Blick genommen und politisch handlungsleitend werden, wenn wir die gegenwärtige KiTa-Katastrophe nicht dauerhaft in unserer Gesellschaft verankern wollen?!

Für mich als verantwortlichen Trägervertreter heißt das, das zu tun, was ich mit diesem offenen Brief gerade mache: Kommunikation mit maximal verantwortbarer Offenheit. Für mich heißt es aber auch: Ich schütze meine MitarbeiterInnen vor einem System, das in Kauf nimmt, dass sie mittelfristig ernsthaft erkranken. Auch wenn es mich schmerzt und Konflikte bedeutet: Ich werde weiterhin soweit gehen müssen, Gruppen zu schließen und Kinder abzuweisen, weil es der Personalschlüssel gebietet. Zum Wohl meiner Beschäftigten! Und zum Wohl der Kinder, die uns in unseren KiTas anvertraut sind!

Denn für sie, für jedes einzelne von ihnen, tragen wir gemeinsam mit deren Eltern Verantwortung. Und um sie müssen wir uns in dieser Zeit kümmern und sie schützen. Für Sie hieße das: Reden Sie nicht weiter von Programmen, die erst in Jahren Entlastungen verschaffen. Nehmen Sie die Zahl der heute bereits fehlenden Fachkräfte in den Blick, stellen Sie sich Ihrem politischen Auftrag und schaffen Sie uns und allen Trägern die Möglichkeit, jetzt und für die nächsten 5 Jahre vereinfachte Zugänge zum ErzieherInnen- oder KinderpflegerInnenberuf zu bekommen.

Verschaffen Sie uns die Möglichkeit an Personal, an QuereinsteigerInnen und verwandte Berufsgruppen, zu kommen! Jetzt und nicht erst in drei, fünf oder zehn Jahren! Um der Kinder willen, um der ErzieherInnen in den Einrichtungen willen und für eine gute Zukunft unserer Gesellschaft!“

Quelle: https://www.ekhn.de/aktuell/nachrichten/aus-den-regionen/detailregionen/news/dekanat-wetterau-aeussert-sich-mit-offenem-brief-zur-situation-in-den-wetterauer-kitas.html

Wann dürfen Kinder noch Kinder sein? Wir nehmen ihnen jeden Freiraum (und verlernen selbst zu leben) – eine Kita-Erzieherin berichtet

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