CHEMNITZ. 16- und 17-Jährige liegen bei der politischen Reife mit Volljährigen auf Augenhöhe, ermittelten Chemnitzer und Berliner Politologen anhand der Berliner Wahlen von 2021.
Unterschiedliche Wahlaltersgrenzen für Kommunal- und Landtagswahlen innerhalb eines Bundeslandes sorgen für Verwirrung unter 16- bis 18-Jährigen. Das zeigt eine neue Studie mit dem Titel „Mehr Wählen wagen? Ungleichheiten beim „Wählen ab 16“ und ihre Folgen“.
Gemeinsam befragten Arndt Leininger und Thorsten Faas im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung mehr als 5.000 Berliner Jugendliche zwischen 15 und 20 Jahren vor dem Hintergrund der Wahlen vom September 2021, die kommende Woche teilweise wiederholt werden müssen. Damals waren die Berlinerinnen und Berliner nicht nur zur Bundestagswahl, sondern auch zur Landtags- und Kommunalwahl aufgerufen und sollten darüber hinaus an einem Volksentscheid teilnehmen. Allerdings konnten sich nur an der Kommunalwahl auch 16- und 17-Jährige beteiligen.
Ihre Studie bestätige, so die Wissenschaftler, dass 16- und 17-Jährige hinsichtlich ihrer politischen Reife mit jungen Erwachsenen ab 18 Jahren auf Augenhöhe seien. „Unsere aktuelle Befragung untermauert, dass es weiterhin wenig Anlass gibt, an der Befähigung 16- und 17-Jähriger zu politischer Teilhabe auch auf Bundesebene zu zweifeln“, führt Arndt Leininger aus. Im Gegenteil legten die Befunde nahe, das Wahlalter nicht nur und auch nicht zuerst auf kommunaler Ebene zu senken.
Ihre Daten ergänzten Arndt Leininger, Juniorprofessor an der TU Chemnitz, und Thorsten Faas, (FU Berlin) durch eine erneute Befragung von rund 2.000 17- bis 27-jährigen jungen Menschen in Brandenburg und Sachsen. 2019 hatten diese Befragten – damals noch im Alter von 15- bis 24-Jahren – an der Jugendwahlstudie 2019 teilgenommen. Dabei hatten Leininger und Faas, anlässlich der damals zeitgleichen Landtagswahlen in beiden Bundesländern Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen jungen Menschen in Brandenburg (Wahlalter: 16 Jahre) und Sachsen (Wahlalter: 18 Jahre) erhoben. Schon damals hätte sich gezeigt, so die Politologen, dass sich bei 16- und 17-Jährigen, aber auch schon 15-Jährigen, das Interesse an und das Wissen über Politik nicht von jungen Erwachsenen unterschied.
Eine umfassende Senkung des Wahlalters würde nach Ansicht der Wissenschaftler die Übersichtlichkeit für die Erstwähler hinsichtlich ihrer Rechte erhöhen. Nicht zuletzt habe die Untersuchung auch gezeigt, dass rund zehn Prozent der 16- und 17-Jährigen nicht von ihrer Wahlberechtigung für die Kommunalwahl wussten. Diese Problematik verschärfe sich noch unter dem Blickwinkel demokratischer Gleichheit, ergänzt Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung: „Insbesondere Jugendliche, die sich selbst der ‚Unterschicht‘ zuordnen, verzeichnen die höchsten Fehlwahrnehmungen, blieben also im schlimmsten Fall den Wahlen aus Unwissenheit fern.“ Die Uneinheitlichkeit der Wahlaltersgrenzen verstärke dadurch einen allgemeinen Trend zur sozial ungleichen Wahlbeteiligung, der „besorgniserregend“ sei, so Legrand weiter. Hier sei bei abgesenktem Wahlalter auch mehr Aufklärung, Information und Motivation zur Wahl dringend notwendig.
Dass das unterschiedliche Wahlmindestalter nicht nur innerhalb des Berliner Wahlclusters ein Problem darstelle, unterstreicht auch Thorsten Faas: „Wir sehen, dass der Flickenteppich aus Wahlaltersgrenzen zu erheblichen Fehlwahrnehmungen unter jungen Menschen geführt hat. Die wiederholte Befragung in Brandenburg und Sachsen bekräftigt nicht nur die Ergebnisse der Berliner Befragung, sondern zeigt auch, dass der Zuspruch unter den Befragten für das ‚Wählen mit 16‘ auf Bundesebene dort deutlich größer ist, wo die jungen Menschen bereits Erfahrungen mit dem abgesenkten Wahlalter machen konnten, bekräftigt der Politikwissenschaftler.
Forscher plädieren für Einigung bei Absenkung des Wahlalters im Bund
„Emotional abgeholt“ würden junge Menschen vor allem mit einem abgesenkten Wahlalter auf Bundesebene, so Leininger und Faas in der Studie. Das heißt, dass die Freude über die Wahlberechtigung bei 18-Jährigen, aber auch der Ärger über eine verweigerte Wahlmöglichkeit, bei den 15- bis 17-jährigen Befragten dort mit Abstand am größten sei. Folgerichtig spreche sich auch eine Mehrheit der befragten jungen Menschen für ein Wahlalter von 16 Jahren auf Bundesebene aus.
Sollten die Parteien der Ampelkoalition und die Unionsparteien zu keiner Einigung über die Absenkung des Wahlalters im Bund kommen, werde sich die Vielfalt unterschiedlicher Wahlaltersregelungen in den Ländern zukünftig indes weiter vergrößern, prognostizieren die Forscher. Aktuell betrachtet bleibe es für junge Menschen auf absehbare Zeit nicht leicht, den Überblick zu behalten.
Daran werde auch die Wiederholungswahl in Berlin nichts ändern. Denn bezogen auf die Gruppe der jungen Wählerinnen und Wähler dürfen im Februar 2023 zwar nun Jugendliche, welche 2021 noch nicht 16 Jahre alt und somit noch nicht wahlberechtigt waren, nun zum ersten Mal und die damals 16-Jährigen zum zweiten Mal an einer Kommunalwahl teilnehmen – nicht aber an der Wahl zum Abgeordnetenhaus.
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