Website-Icon News4teachers

Unterricht, der in besonderem Maße auf Selbstständigkeit und Eigenverantwortung setzt

GROSS PANKOW. Was bedeutet eine positive Fehlerkultur konkret im Unterricht? Wie sieht Lernen aus, wenn Kinder selbst entscheiden dürfen, was, wann und mit wem sie arbeiten – und wenn Fehler ausdrücklich zum Lernprozess gehören? Die Pädagoginnen Jana Reiche und Dr. Silke Kipper haben im ersten Teil ihres großen Gastbeitrags zum Thema ausführliche Antworten gegeben. Hier – im zweiten Teil – zeigen sie am Beispiel eines typischen Schultags, wie die Prinzipien der Montessori-Pädagogik in gelebte Praxis übersetzt werden.

Hier geht es zurück zu Teil eins des Beitrags. 

Aktiviert. Illustration: Shutterstock

Ein Tag in der Praxis

Doch wie sehen diese Prinzipien im konkreten Schulalltag aus? Im Folgenden wird ein Ausschnitt aus der pädagogischen Praxis einer Einrichtung vorgestellt, der exemplarisch zeigt, wie Forschungsergebnisse in gelebte Strukturen und Lernprozesse übersetzt werden können. Geschildert wird ein „ganz normaler“ Schul-Dienstag kurz vor Ende des Schuljahres.

Anzeige

Die Kinder kommen zu unterschiedlichen Zeiten in der Schule an. Die meisten haben kein Gepäck dabei. Ein Frühstückbuffet ermöglicht ihnen, in kleinen Gruppen, auch mit ihren Eltern oder Geschwistern aus dem Kinderhaus, das Frühstück zu genießen. Sie werden in einem flexiblen Zeitraum von einer halben Stunde in den oberen Schulräumen erscheinen, spätestens um 8.00 Uhr. Keine Klingel ruft sie. Die benötigten Arbeits- und Verbrauchsmaterialien finden sie in der vorbereiteten Umgebung in offenen Regalen vor. Da die Woche strukturiert ist und Vorhaben besprochen werden, wissen sie, wo heute die Übungsschwerpunkte liegen könnten.

“Sie können üben, was sie noch üben müssen, sie haben die freie Wahl und das Üben ist nicht auf Themenbereiche beschränkt”

Die Kinder verlassen sich auf folgende Kernprinzipien: Sie können üben, was sie noch üben müssen, sie haben die freie Wahl und das Üben ist nicht auf Themenbereiche beschränkt. Sie werden in ihren individuellen Lernvorhaben unterstützt. Sie können so lange ihre Erkundungen fortsetzen, wie sie es für ein tiefes Verstehen brauchen und wie es dem begleitenden Erwachsenen aufgrund der Beobachtung als sinnvoll erscheint. Und sie können sich Arbeitspartner*innen suchen, die sie für geeignet halten. Kinder, die ihre Freiarbeit nicht selbstständig ordnen können, bekommen Strukturhilfen, wie eine tägliche Dokumentation oder individuelle Absprache zu den Übungsvorhaben. Für ein Kind ist der Arbeitsplatz am Morgen mit einer „täglichen Übung“ vorbereitet. Dieses Kind beginnt damit seinen Tag, bevor es später seinen selbst gewählten präferierten Beschäftigungen nachgeht. Dienstags findet ein Mathekreis statt, daher wählen viele, aber längst nicht alle Kinder ihre Tätigkeit aus diesem Bereich.

Im Raum liegen noch die kleinen Stationen zur Erdgeschichte vom Vortag. Drei Kinder experimentieren zu den Aggregatzuständen, es sind niedrigschwellige Versuche zur Erdentstehung. Zwei Kinder bearbeiten ihr jeweiliges Studienbuch, um ihre Vorhaben für die Woche zu ordnen oder um zu schauen, ob die Lehrkraft einen Hinweis zu den Übungen gegeben hat. Andere bereiten das Zeugnisgespräch vor. Neben den wöchentlichen Dokumentationen im Studienbuch helfen ihnen die ebenfalls dort formulierten erwarteten Kenntnisse in den verschiedenen Bereichen. Durch ein Ankreuzverfahren schätzen sie ihren Übungsstand ein. Die Lehrkräfte arbeiten mit dem gleichen Instrument, nur ausführlicher in der Differenzierung der Kompetenzen. Beides, die Einschätzung des Kindes und die der Lehrkraft, werden in einem gemeinsamen Zeugnisgespräch, an dem auch die Eltern teilnehmen, besprochen werden.

Der vorbereitete Raum zeigt erkennbar, dass der Schwerpunkt heute die schriftliche Multiplikation sein wird. Deshalb haben sich einige Kinder in Nebenräume zurückgezogen, um noch einmal das Einmaleins zu trainieren. Eine Zweitklässlerin trifft gerade eine Verabredung mit einem Fünftklässler, der Dezimalbrüche multipliziert. Zwei Kinder bearbeiten Übungen im Matheordner.

Ein Drittklässler sitzt bei einem Kind der Klasse 1, das Unterstützung beim Üben der Partnerzahlen braucht. Zwei Kinder der Klasse 2 lernen von einer Erstklässlerin die Schreibschrift. Ein Kind hat im Lernraum das Tablet bereitgelegt, denn das Schnell-Lesetraining geht am besten in digitaler Variante. Zwei Kinder sind in die Arbeit am Multiplikationsbrett vertieft. Sie stellen beim zweiten Umdrehen der Lösungskarte fest, dass sie die Aufgabe ein drittes Mal auslegen werden. Sie bitten um Hilfe.

Ein anderes Kind schaut einer Freundin zu, die noch einen der Lehrer*innen-Briefe schreibt. So wie die Kinder zusätzlich zum Rasterzeugnis einen individuellen Kinderbrief mit einer kindgemäßen schriftlichen Beschreibung ihres Schulalltags von den Lehrkräften erhalten, bekommen die Lehrkräfte auch Briefe von den Kindern. Auf einem Materialteppich probiert ein Kind die Multiplikation mit dem Markenspiel aus. Es hat das Verfahren vorher noch nie gesehen. Am Ende wird es höchst interessante Erkenntnisse über das Quadrieren gewonnen haben. Das Multiplizieren mit dem Markenspiel wird es sich später zeigen lassen.

“In der zweiten Hälfte des Tages üben einige Kinder weiter mit den Mathematikmaterialien, andere sind in der Turnhalle beim Sportangebot”

Wenn der Kreis beginnt, werden zunächst die Übungen der letzten Woche besprochen. Angebote und geeignete Materialien für die Woche waren zur Orientierung auf einem kleinen Aushang verschriftlicht. Nicht alle Kinder haben diese Übungen erledigt, einigen war das Material vertraut, sie haben ihre „Prüfung“ im Rechenpass bereits bestanden. Andere haben Übungen übersprungen oder vergessen. Das wird offen besprochen und für einige Kinder werden die Aufgaben der letzten Woche für eine weitere Woche verabredet. Wenn die Rückschau stattgefunden hat, erfolgt die Darbietung zur schriftlichen Multiplikation. Während die Kinder manchmal zunächst allein herausfinden, wie sie mit ihren Vorkenntnissen die Nutzung des Materials angehen würden, wird heute der klassische Ablauf am Material gezeigt. Danach wird individuell oder in kleinen Gruppen geübt bis zum Mittagessen und es werden Übungsvorhaben festgelegt.

In der Freiarbeitszeit mischt sich die Lerngruppe 1-3 wieder. Ein Kind hat nicht am Kreis teilgenommen, denn es hatte sich mit dem Koch verabredet und das Essen vorbereitet. Zum Mittagessen steht ein Büfett bereit und jedes Kind nimmt sich, was es essen will. Über Menge und Zusammensetzung entscheidet es selbst. In der zweiten Hälfte des Tages üben einige Kinder weiter mit den Mathematikmaterialien, andere sind in der Turnhalle beim Sportangebot. Am Nachmittag wird sich die Schüler*innen-Firma mit einer Kooperationspartnerin der Schule treffen. Sie werden ihren Beitrag im Schülerblog besprechen, das Design für die neuen T-Shirts entwerfen und die Zeichnungen der Kinderhaus-Kinder digital übertragen. Eine Lehrkraft wird die Schulcloud für die Lerngruppe 4-6 befüllen, damit Kinder auch zu Hause üben können: Englisch-Vokabeln, 1×1-Training oder das schriftliche Multiplizieren. Sie werden hier auch vom Schulteam produzierte Material-Filme finden, die ihnen helfen, sich an Verfahren zu erinnern. Zwei Lehrkräfte werden mit der Sonderpädagogischen Beratungsstelle im Förderausschuss beschließen, wie die weitere Beschulung des Kindes mit einer Diagnose aus dem Autismusspektrum erfolgt.

Wenig Risiken, viele Chancen

Welche Irritationen und Fehlstellen kann es bei all dem geben? In einem pädagogischen Setting, das in besonderem Maße auf Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Lernenden setzt, treten häufig Ambivalenzen in der Rollenbestimmung der Lehrkraft auf. Während der Auftrag zur systematischen Beobachtung klar umrissen ist, bestehen mitunter Unsicherheiten in Bezug auf Intensität und Zeitpunkt der individuellen oder gruppenbezogenen Unterstützung. Diagnostiken über das Material oder Zusatzinstrumente, etwa individuelle Lernstandsanalysen oder standardisierte Verfahren wie zum Beispiel die “Hamburger Schreibprobe“, liefern zwar wertvolle Hinweise auf den Entwicklungsstand eines Kindes, reichen jedoch nicht immer aus, um daraus konkrete, im Alltag umsetzbare Unterstützungsstrategien abzuleiten. Pädagogische Professionalität erfordert daher die Fähigkeit, diagnostische Daten in Beziehung zu situativen Beobachtungen, sozialen Dynamiken und den individuellen Lernbiografien der Kinder zu setzen.

Im Kontext eines Schulwechsels erleben Kinder diese Verschiebung häufig auf paradoxe Weise. Das Lernen für Leistungsabfragen erscheint ihnen zunächst weniger komplex, da Noten kurzfristig Anreiz und Orientierung bieten. Zudem entfällt die kontinuierliche Anschlusskommunikation nach einer Aufgabenabgabe. Hausaufgaben erfüllen dort die  Funktion des wiederholenden Übens oder der Verbesserung einer Note. Dieser Modus vermittelt Kindern mitunter ein Gefühl der Entlastung, da die Anforderungen eindeutiger codiert und institutionell klarer verankert erscheinen.

Gleichzeitig offenbart sich bei einem solchen Übergang eine oft überraschende Erkenntnis, sowohl seitens der Kinder als auch der Eltern. Die zuvor erworbenen Kompetenzen erweisen sich als ausgesprochen tragfähig, grundlegende Routinen und Basiskonzepte sind sicher verankert und die kooperative Haltung im Lernprozess ist stabil ausgebildet. Diese Erfahrungen verdeutlichen, welches Potenzial entsteht, wenn eine freundliche Fehlerkultur herrscht, die Rolle der Lehrkraft primär als dem individuellen Entwicklungsprozess des Kindes dienend verstanden wird und nicht vorrangig an der Erreichung eines abstrakten Klassenziels.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „Montessori” nicht rechtlich geschützt ist und somit in pädagogischen Kontexten sehr unterschiedlich verwendet wird. Unter diesem Label finden sich schulische Praktiken, die teilweise erheblich von den grundlegenden Überzeugungen Maria Montessoris abweichen. Diese Vielfalt spiegelt sich nicht deutlich abgegrenzt in den hier zitierten empirischen Studien wider. Berücksichtigt sind sowohl Einrichtungen, die sich eng an den klassischen Prinzipien orientieren, als auch Schulen, die hybride Modelle verfolgen. Ein Beispiel hierfür ist eine Schule mit lediglich einer altershomogenen Montessori-Klasse innerhalb eines ansonsten konventionellen Systems.

Daher ist es nicht immer eindeutig zu bestimmen, ob dokumentierte Lernerfolge primär auf die spezifischen Prinzipien der Montessori-Pädagogik oder in stärkerem Maße auf Elemente eines konventionellen Systems zurückzuführen sind. Gerade deshalb ist es wichtig, bei der Betrachtung des pädagogischen Alltags die konzeptionellen Grundideen nicht aus den Augen zu verlieren. Denn im Idealfall bieten die Grundlagen der Montessori-Pädagogik sowohl in der frühkindlichen Bildung als auch in der Grundschule ein erprobtes Modell, um zentrale Zukunftskompetenzen wirksam zu fördern.

Unabhängig von der konkreten Umsetzung bleibt also festzuhalten, dass Lernorte so gestaltet werden können, dass sie Kindern den Weg zu selbstbewussten und kritisch reflektierenden Erwachsenen eröffnen. Was in diesen Räumen angelegt wird, prägt nicht nur individuelle Bildungsbiografien, sondern bildet auch langfristig ein tragfähiges Fundament für eine offene und solidarische Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund sollte die Bildungsempfehlung der UNESCO aus dem Jahr 2024 als zentraler Orientierungsrahmen für die Weiterentwicklung der Bildungslandschaft verstanden werden. News4teachers 

Die Autorinnen

Jana Reiche

Diplom-Sozialpädagogin und Lehrerin mit Montessori-Zusatzausbildungen; Vorstandsmitglied und Schulleiterin des Landweg e.V.; aktive Mitarbeit im Montessori-LV Berlin-Brandenburg; seit vielen Jahren prägt sie die pädagogische Entwicklung der Landwegschule; regelmäßige Veröffentlichungen zur Montessori-Pädagogik in Blogs, Fachbeiträgen sowie auf YouTube und TikTok.

Dr. Silke Kipper

war als Professorin für Biokommunikation und Verhalten tätig und dabei in die Lehramts-Ausbildung involviert; seit 2017 Lehrerin an der Landweg-Schule; BNE-Koordinatorin des Hauses und Buchautorin; gemeinsam mit Jana Reiche wirkt sie in Workshops, Vorträgen und Schriften als Multiplikatorin von Montessori-Pädagogik, BNE und moderner Bildung.

Literatur:

Becker, N. (2004). Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006 (Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2004) – URN: urn:nbn:de:0111-opus-55807 – DOI: 10.25656/01:5580

Demangeon, A., Claudel-Valentin, S., Aubry, A., Youssef Tazouti, Y. (2023). A meta-analysis of the effects of Montessori education on five fields of development and learning in preschool and school-age children. Contemporary

Educational Psychology 73, 102182 https://doi.org/10.1016/j.cedpsych.2023.102182

Denervaud, S., Fornari, E., Yang, X.-F., Hagmann, P., Immordino-Yang, M. H., & Sander, D. (2020). An fMRI study of error monitoring in Montessori and traditionally-schooled children. Npj Science of Learning, 5(1), https://doi.org/10.1038/s41539-020-0069-6

Denervaud, S., Mumenthaler, C., Gentaz, E. & Sander, D. (2020a). Emotion recognition development: Preliminary evidence for an effect of school pedagogical practices. Learning and Instruction 69, 101353, https://doi.org/10.1016/j.learninstruc.2020.101353.

Denervaud, S., Hess, A., Sander, D. & Pourtois, G. (2021). Children’s automatic evaluation of self-generated actions is different from adults. Developmental Science 24, e13045. https://doi.org/10.1111/desc.13045

Gaujard, M. & Denervaud, S. (2023). See beyond behavioral comparisons: neuroscientific perspectives on the Montessori pedagogy. OMEP Slovensko Available from: https://www.researchgate.net/publication/375774975_SEE_BEYOND_BEHAVIORAL_COMPARISONS_NEUROSCIENTIFIC_PERSPECTIVES_ON_THE_MONTESSORI_PEDAGOGY.

Surma, T., Vanhees, C., Wils, M., Nijlunsing, J., Crato, N., Hattie, J., Muijs, D., Rata, E., William, D., & Kirschner, P. (2025). Developing a curriculum for deep thinking: the knowledge revival. SpringerBriefs in Education. Springer Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-031-74661-1

Hier geht es zurück zu Teil eins des Beitrags: 

Schule der Zukunft: Auf den Umgang mit Fehlern kommt es an! Lernen heißt: Scheitern dürfen – ein Gastbeitrag

Die mobile Version verlassen