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Warum Jungen im Schnitt schlechter durch Kita und Schule kommen – und dann anfällig für Autoritarismus werden

BERLIN. Wer in Kita und Schule wiederholt scheitert, verliert Selbstvertrauen – und wird anfällig für autoritäre Erzählungen. Das betrifft immer häufiger junge Männer. Studien und Daten stützen das Bild: Schon vor der Einschulung zeigen Jungen häufiger sprachliche Defizite, in der Schule geraten sie eher ins Hintertreffen, im jungen Erwachsenenalter häufen sich Statusverlust und politischer Frust. Wenn die Demokratie resilient bleiben soll, darauf weist der Medzininer und Bestseller-Autor Herbert Renz-Polster (»Menschenkinder«) hin, müssen Kitas und Schulen zu Orten sozialer Wärme, Bindung und Mitbestimmung werden.

Abgehängt. Illustration: Shutterstock

Dr. med. Herbert Renz-Polster beobachtet seit Jahrzehnten, wie sich die Kindheit verändert – und mit ihr die Jungen. Der Kinder- und Jugendarzt, Jahrgang 1960, forscht am Mannheimer Institut für Public Health der Universität Heidelberg. Im Gespräch mit dem Spiegel warnt er aktuell vor einer Entwicklung, die tief ins Bildungssystem hineinreicht: „In Institutionen wie Kita, Kindergarten und Schule haben Jungen mehr Misserfolge, mehr Konflikte, mehr Stress. Das hat Folgen für den Selbstwert – und macht anfällig für autoritäre Erzählungen.“ Ein Satz, der nachhallt. Denn Renz-Polster beschreibt nicht nur ein pädagogisches, sondern ein gesellschaftliches Problem.

Im Interview erklärt er, wie stark frühe Erfahrungen das Vertrauen in sich und andere prägen. „Wie anfällig Kinder später für autoritäre Strömungen sind, hat viel damit zu tun, ob Kinder mit Vertrauen in sich und die Welt aufwachsen oder nicht“, sagt er. Wer in der Kindheit verletzt werde, wer sich als Versager erlebe oder seinen Wert nicht erfahre, trage diese Erfahrung weiter. „Kurz gesagt: Wer in der Kindheit dauerhaft verletzt wird oder seinen Wert nicht erfährt, wird verletzlich.“ Solche Verletzlichkeit, so Renz-Polster, mache Menschen später empfänglich für einfache Antworten.

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Er spricht von vier Entwicklungsfragen, die jedes Kind beantwortet bekommen muss: Bin ich sicher? Bin ich wertvoll? Bin ich verbunden mit anderen? Bin ich wirksam? Wie gut die Umwelt diese Fragen beantwortet, entscheidet über Vertrauen und Selbstwirksamkeit. Wer hier früh scheitert, verliert Halt – und ist anfällig für ideologische Vereinfachungen.

Die Jungenkrise beginnt vor der Schule: Sprachdefizite, frühe Rückstände

Im Gespräch mit dem Spiegel lenkt Renz-Polster den Blick besonders auf die Jungen. „Als Gruppe betrachtet, brauchen Jungen nicht nur mehr Bewegung, sondern generell mehr Unterstützung. Ihre sprachliche und emotionale Entwicklung ist langsamer als die der Mädchen“, sagt er. Mädchen seien in der Regel gewissenhafter und passten sich besser an. „Die Jungen tun sich in der durchpädagogisierten Kindheit, wie sie heutzutage üblich ist, schwerer als Mädchen. Das hat Folgen für den Selbstwert – und macht anfällig für autoritäre Erzählungen.“

Diese Einschätzung wird durch zahlreiche Studien untermauert. Wie der Bildungsforscher Prof. Klaus Hurrelmann bereits 2012 in seinem Buch „Jungen als Bildungsverlierer“ feststellte, dokumentieren Bildungs- und Jugendstudien seit Jahrzehnten eine sich stetig verschlechternde Leistungsbilanz von Jungen im Vergleich zu Mädchen. Laut Statistischem Bundesamt liegt der Anteil männlicher Abiturienten inzwischen bei nur 45 Prozent, obwohl Jungen mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Sie stellen 60 Prozent der Schulabbrecher, und 15 Prozent der Männer zwischen 25 und 34 Jahren verfügen weder über Abitur noch über eine abgeschlossene Ausbildung – bei den Frauen sind es elf Prozent.

Wie die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin Prof. Margrit Stamm (laut einem Beitrag des Bildungsjournalisten Jan-Martin Wiarda) betont, sind Jungen oft „Underachiever“: Ihre tatsächliche Leistung bleibt hinter ihrem Potenzial zurück. Sie fallen bereits im Kindergarten zurück, holen in der Grundschule selten auf – trotz vergleichbarer Intelligenz.

Eine Auswertung der Correktiv-Redaktion von Schuleingangsuntersuchungen zeigt, dass Jungen in fast allen Bundesländern deutlich häufiger Sprachprobleme haben als Mädchen. Lehrkräfte wiederum überschätzen laut einer internationalen Längsschnittstudie der Universität Halle-Wittenberg die Leistungen von Mädchen in sprachlichen Fächern und unterschätzen die von Jungen (in Mathematik umgekehrt). Das führt über die Jahre zu selbsterfüllenden Prophezeiungen – und zu einem wachsenden Vertrauensverlust der Jungen in ihre eigenen kommunikativen Fähigkeiten.

Erwartungen steuern Leistungen: Lehrerurteile, Unterrichtsformen, Selbsterfüllung

Auch der Zeit-Autor Martin Spiewak beschreibt in seinem Beitrag „Jung, männlich, abgehängt“ die Krise der Jungen als historisch: Schon bei der Einschulung werden zwei Drittel der wegen Entwicklungsdefiziten zurückgestellten Kinder als Jungen eingestuft. Später landen sie häufiger auf Förderschulen, bleiben öfter sitzen und schaffen seltener einen Abschluss. Besonders gravierend sei, dass die modernen Unterrichtsformen offene Lernmethoden bevorzugen, die Selbstorganisation verlangen – eine Fähigkeit, die Mädchen im Durchschnitt früher entwickeln. Jungen, so Spiewak, bräuchten klare Strukturen, Bewegung und direkte Ansprache. Die Schule aber setze zunehmend auf Selbststeuerung. Das Ergebnis: ein wachsendes Gefühl des Scheiterns.

Vom Bildungsabstieg zum Rechtsruck: Wie Frust politisch wird

Dieses Scheitern bleibt nicht folgenlos. Wie News4teachers berichtete, zeigt sich die Entfremdung vieler junger Männer inzwischen in ihrem Wahlverhalten. Bei den jüngsten Landtagswahlen in Thüringen wählten 38 Prozent der 18- bis 24-jährigen Männer AfD, während der Anteil unter gleichaltrigen Frauen deutlich niedriger lag. Der Sozialpädagoge Prof. Roland Merten, ehemaliger Staatssekretär in Thüringen, führt das auf die Bildungs- und Lebenslage dieser jungen Männer zurück. Viele seien in der Schule gescheitert, verfügten über keine Ausbildung und lebten in strukturschwachen Regionen, wo Männerüberschüsse und Perspektivlosigkeit dominierten. „Misserfolge aus der Schule werden zu Misserfolgen im Arbeitsleben verlängert“, schreibt Merten im Spiegel.

Hinzu kommt eine Rückkehr traditioneller Rollenbilder. Eine Studie der Hilfsorganisation Plan International ergab: 55 Prozent der befragten Männer zwischen 18 und 35 Jahren gaben an, mit ihrem Auftreten zeigen zu wollen, dass sie „echte Männer“ seien. Jeder Dritte hielt körperliche Gewalt in Beziehungen für „gelegentlich akzeptabel“. Die Kölner Kriminologin Nicole Bögelein sieht darin eine Wiederbelebung der „hegemonialen Männlichkeit“ – eines kulturellen Ideals, das Dominanz, Hierarchie und Abwertung des Weiblichen betont.

Was Pädagogik jetzt leisten muss: Struktur, Beziehung, Bewegung – und Vorbilder

Wer sich – wie Renz-Polster sagt – „dauerhaft als Versager erfährt“, sucht nach anderen Wegen, seinen Wert zu beweisen. Für manche bedeutet das Aggression, für andere der Rückzug in ideologische Gewissheiten. Bildungssystem und Gesellschaft tragen dazu ihren Teil bei: In Kitas und Grundschulen liegt der Männeranteil unter den Fachkräften bei unter zehn Prozent. Jungen erleben in ihrer gesamten Kindheit kaum männliche Bezugspersonen. „Jungen fehlen in der Schule die männlichen Rollenvorbilder“, schreibt Spiewak. „Ihre Beziehung zu den Lehrkräften ist distanzierter, ihre Identifikation mit der Institution Schule schwächer.“

Die Schweizer Forscherin Margrit Stamm fordert deshalb geschlechtersensible Förderung ab der Kita. Jungen müssten früh lernen, dass Anstrengung keine Schwäche ist. Viele von ihnen hätten ein „statisches Selbstbild“, sagt Stamm – sie glaubten, dass Intelligenz unveränderlich sei, und versuchten deshalb, sich vor dem Scheitern zu schützen, indem sie sich gar nicht erst anstrengen. Entscheidend sei, dieses Selbstbild zu verändern: Scheitern müsse als natürlicher Teil des Lernprozesses verstanden werden.

Ausblick: Kitas und Schulen als Orte von Sicherheit, Wert und Wirksamkeit

Renz-Polster geht noch weiter. Es gehe nicht um mehr Disziplin, sondern um Beziehungen. „Kitas, Schulen und Horte könnten Einrichtungen sein, in denen Kinder soziale Wärme und Raum für eigenes Gestalten und Mitbestimmung erfahren“, sagt er im Spiegel. „Es braucht nicht mehr Geschichtsunterricht, um die AfD zu bekämpfen. Stattdessen müssten Schulen ihren Ausleseauftrag abstreifen und Kindern bessere Antworten auf ihre Entwicklungsfragen geben: Bin ich sicher? Bin ich wertvoll? Bin ich verbunden mit anderen? Bin ich wirksam?“

Er klingt enttäuscht, fast resigniert. „Ich bin schwer enttäuscht, dass das politisch nicht so gesehen wird.“ Doch seine Botschaft ist klar: Wenn die Gesellschaft den autoritären Versuchungen widerstehen will, muss sie früher ansetzen – in den Kitas, in den Schulen, bei den Jungen. News4teachers 

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