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„Schulleitungen bräuchten mehr Freiräume, um mit ihrem Kollegium Schule zu entwickeln“: Udo Beckmann im Interview

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DÜSSELDORF. Udo Beckmann gehört seit Jahrzehnten zu den prägenden Stimmen der pädagogischen Führung in Deutschland: ehemaliger Hauptschulleiter im Dortmunder Brennpunkt, langjähriger Landes- und Bundesvorsitzender des VBE, heute Ehrenvorsitzender des Verbands. Seine Erfahrung aus Schule, Verbandsarbeit und Politik fließt auch in den Deutschen Schulleitungskongress ein, zu dem jährlich rund 3.000 Schulleiterinnen und Schulleiter nach Düsseldorf kommen (vom 27. bis 29. November 2025 einmal mehr). Beckmann ist Leiter des Programmbeirats. Mit ihm spricht News4teachers über die Lage der Schulleitungen – zwischen Überlastung und neuen Perspektiven.

“Möglichst wenig fragen, einfach machen”: VBE-Ehrenvorsitzender Udo Beckmann. Foto: Windmüller/VBE

News4teachers: Herr Beckmann, Sie waren viele Jahre Schulleiter. Haben Sie diese Aufgabe später vermisst?

Udo Beckmann: Es ist mir grundsätzlich schwergefallen, aus der Rolle des Schulleiters herauszugehen. Aber ich musste mich damals entscheiden: Ich war Landesvorsitzender des VBE und zugleich Schulleiter einer Schule, die vor großen Herausforderungen stand – insbesondere wegen der schwierigen Schülerschaft. Irgendwann hatte ich das Gefühl, beiden Aufgaben nicht mehr gerecht zu werden. Nach Gesprächen mit meinen Gremien habe ich mich entschieden, mich ganz auf die Gewerkschaftsarbeit zu konzentrieren. Die Frage der Bildungsgerechtigkeit, die mich schon als Schulleiter angetrieben hat, hat mich bis heute begleitet – bis hinein in meine heutige Rolle als Leiter der Programmbeiräte für den Deutschen Schulleitungs-, den Deutschen Schulaufsichts- und den Deutschen Schulträgerkongress.

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News4teachers: Mit welchen Herausforderungen hatten Sie damals konkret an Ihrer Schule zu tun?

Udo Beckmann: Viele meiner Schülerinnen und Schüler kamen aus Elternhäusern, in denen sie nicht die Unterstützung erhielten, die Kinder eigentlich brauchen. Ein Beispiel: Viele kamen morgens ohne Frühstück. Wir haben deshalb eine Brötchenbar eingerichtet – eine Schüler-AG schmierte Brötchen, die günstig vorbestellt werden konnten. In der großen Pause blieben die Kinder zunächst zehn Minuten im Klassenraum, um gemeinsam zu frühstücken, bevor es auf den Schulhof ging.

“Das System steckt tief in der Krise – vor allem wegen des Lehrkräftemangels, der Leistungsrückgänge und der zunehmenden sozialen Heterogenität”

News4teachers: Wenn Sie die Situation heute betrachten: Hat sich für Schulleitungen viel verändert?

Udo Beckmann: Schulleitungen erleben heute eine außergewöhnliche Doppelbewegung: Das System steckt tief in der Krise – vor allem wegen des Lehrkräftemangels, der Leistungsrückgänge und der zunehmenden sozialen Heterogenität. Kinder bringen sehr unterschiedliche Lernausgangslagen mit, der Förderbedarf steigt, psychische Belastungen nehmen zu, und gleichzeitig arbeiten viele Kollegien am Limit. Diese Gleichzeitigkeit – steigende Anforderungen bei sinkenden Ressourcen – prägt die Situation wie kaum etwas anderes und führt dazu, dass der Lehrkräftemangel inzwischen zu einem systemischen Risiko geworden ist. Viele Schulleitungen kompensieren strukturelle Probleme, die weit über ihren Einflussbereich hinausgehen.

Gleichzeitig entstehen neue Möglichkeiten – etwa durch Digitalisierung, Förderprogramme und den Einsatz künstlicher Intelligenz. Diese Technologien können helfen, individuelle Lernprozesse besser zu unterstützen und Schulen pädagogisch weiterzuentwickeln. Voraussetzung ist jedoch, dass Schulleitungen die nötige Unterstützung bekommen. Denn Digitalisierung ersetzt keine Lehrkräfte; sie ermöglicht lediglich, sie gezielter einzusetzen. Schulführung wird dadurch stärker zu einer strategischen Aufgabe: priorisieren, koordinieren, entwickeln.

Besuchen Sie den Deutschen Schulleitungskongress!

Über 100 Speaker*innen, mehr als 3.000 Teilnehmende: Der Deutsche Schulleitungskongress (DSLK) ist die zentrale Plattform für Schulleitungen, um die Zukunft der Bildung aktiv zu gestalten und dabei nachhaltige Impulse für eine gerechte und zukunftsfähige Gesellschaft zu setzen.

Mit einem breiten Spektrum an innovativen Formaten – von praxisnahen Workshops über inspirierende Keynotes bis hin zu interaktiven Diskussionsforen – unterstützt der DSLK Schulleitungen dabei, ihre Rolle erfolgreich weiterzuentwickeln. Er findet vom 27. Bis 29. November in Düsseldorf statt. Unter den Speaker*innen: Schulreformer Stefan Ruppaner, Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar, Bildungsforscherin Prof. Dr. Birgit Eickelmann.

Hier geht es zum vollständigen Programm. Für Kurzentschlossene gibt es noch wenige Tickets – hier.

News4teachers: Die Digitalisierung galt lange als Wundermittel in der Bildung – und jetzt ist plötzlich von Digitalisierungswahn die Rede.

Udo Beckmann: Das ist typisch für die bildungspolitische Diskussion hierzulande: Bei jeder neuen Welle gibt es erst einen Hype und dann fällt alles wieder ins Tal. Wir brauchen mehr Ruhe und Gelassenheit – und eine sachliche Betrachtung dessen, was technische Entwicklungen tatsächlich ermöglichen. Dazu gehören Ausstattung, Fortbildung der Lehrkräfte und ein verlässlicher technischer Support. Es darf nicht wieder passieren, dass alles auf dem Rücken der Schulen abgeladen wird.

Digitalisierung braucht Struktur – nicht Aktionismus. Was Schulen nicht brauchen, sind immer neue Einzelprojekte. Was sie brauchen, sind stabile Plattformen, verlässlichen Support, einheitliche Standards und langfristige Finanzierung statt Pakt-Logik. Nur dann entsteht ein digitaler Wandel, der tatsächlich entlastet und nicht zusätzliche Arbeit erzeugt.

News4teachers: War der Digitalpakt ein Beispiel dafür?

Udo Beckmann: Genau. Das ist das Grundproblem: Es wird etwas Neues bereitgestellt und dann erwartet, dass Schulen sich schon selbst organisieren. Stattdessen bräuchte es eine konsequente Fortbildungs- und Unterstützungsstrategie. Gleichzeitig werden Schulleitungen seit Jahren mit immer neuen Aufgaben konfrontiert – ohne dass ausreichend Leitungszeit bereitgestellt wird.

News4teachers: Ist das nicht paradox – Vorgaben en détail, aber wenig Unterstützung?

Udo Beckmann: Das ist tatsächlich ein Paradoxon. Schulleitungen bräuchten mehr Freiräume, um mit ihrem Kollegium Schule zu entwickeln. Mein Grundsatz als Schulleiter war immer: Möglichst wenig fragen, einfach machen.

News4teachers: Würden Sie das Schulleitungen heute auch raten?

Udo Beckmann: Ja. Ich würde ihnen raten, alle vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen und anzufangen. Wenn etwas nicht in Ordnung ist, meldet sich die Schulaufsicht schon. Zudem ist deren Rolle im Wandel: weg von Kontrolle, hin zu Beratung und Unterstützung. Schulaufsichtsbeamte haben selbst ein enges Korsett und würden ihre Rolle gerne stärker in Richtung Unterstützung ausfüllen. Dafür braucht es klare Rollenzuschreibungen – für Schulaufsicht, Qualitätsberatung und weitere Gremien.

News4teachers: Gibt es eine klare bundesweite Rollendefinition für Schulleitungen?

Udo Beckmann: Nein. Durch unser föderales System und die sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den Ländern gibt es keine bundesweit einheitliche Klarheit über die Rolle von Schulleitungen.

News4teachers: Wäre eine Professionsbeschreibung wichtig?

Udo Beckmann: Auf jeden Fall. Schulleitung ist ein eigenständiges Berufsfeld. Man qualifiziert sich nicht allein dadurch, dass man gut unterrichten kann. Es braucht Managementfähigkeiten, die Lehrkräfte in ihrer Ausbildung nicht mitbekommen. Daher sind Vorqualifizierungen und kontinuierliche berufsbegleitende Weiterqualifizierungen nötig – und zwar als Teil der Dienstzeit, nicht on top.

News4teachers: Wäre ein eigenes Studium Schulleitung denkbar?

Udo Beckmann: Das kann ich mir vorstellen – allerdings nicht ohne pädagogische Vorqualifizierung. Pädagogische Kompetenz bleibt Kernaufgabe. Was ich mir sehr gut vorstellen kann, ist eine Entlastung durch eine Art Verwaltungsassistenz, damit Schulleitungen sich auf die pädagogische Arbeit konzentrieren können. Heute bleibt ihnen dafür viel zu wenig Zeit.

Eine Verwaltungsassistenz wäre für mich kein Luxus, sondern eine strukturelle Notwendigkeit. Viele Aufgaben binden heute enorme Kapazitäten: Vergabeprozesse, Baumaßnahmen, Datenschutz, Verträge, IT-Management, Personalverwaltung. Das sind hochspezialisierte Felder. Wenn wir diese Aufgaben nicht professionell bündeln, verlieren Schulleitungen genau das, was sie eigentlich leisten sollen: pädagogische Führung, Qualitätsentwicklung und Teamentwicklung.

“Schulleitungen – gerade in Grund-, Haupt- und Realschulen – brauchen Teams, um Schule entwickeln zu können”

News4teachers: Also ein Modell wie im Krankenhaus – fachliche Leitung plus Verwaltung?

Udo Beckmann: Ich möchte mich nicht auf Begriffe festlegen. Aber: Einer muss den Hut aufhaben – und das ist für mich die Schulleitung mit der pädagogischen Gesamtverantwortung. Verwaltung ist Unterstützung, nicht Führung.

News4teachers: Wie stark wird die absehbar kommende Arbeitszeiterfassung das System verändern?

Udo Beckmann: Personalführung wird dadurch noch stärker in den Fokus rücken. Das Deputatsmodell steht ja schon lange in der Diskussion. Arbeitszeitmodelle müssen genauer abbilden, welche unterschiedlichen Aufgaben Lehrkräfte tatsächlich leisten. Künstliche Intelligenz kann hier unterstützen – aber am Ende braucht es ein modernes Verständnis von Arbeitszeit.

Das klassische Deputatsmodell passt nicht mehr zur Realität moderner Schulführung. Digitale Transformation, Ganztagsausbau, multiprofessionelle Teams, steigende soziale Herausforderungen, Datenschutz, Gebäudemanagement – das alles kann niemand mehr nebenher erledigen. Deshalb bin ich überzeugt: Wir müssen Schulleitung konsequent als Team denken.

News4teachers: KI wird immer häufiger genutzt. Kommen große Veränderungen auf Schulleitungen zu?

Udo Beckmann: Ja, wie in allen Berufsfeldern. Was das genau bedeutet, lässt sich noch nicht vollständig absehen. Aber KI kann Lehrkräfte entlasten, etwa bei Korrekturen. Das schafft wiederum Zeit für Unterrichtsvorbereitung und Individualisierung von Lernprozessen – vorausgesetzt, die Nutzung wird organisiert. Und das liegt bei der Schulleitung.

Ich sehe KI als Chance, nicht als Bedrohung – vorausgesetzt, wir nutzen sie bewusst und verantwortungsvoll. KI kann Lernprozesse personalisieren, Routinen entlasten, Diagnostik beschleunigen und Lehrkräften Zeit für Beziehung und Didaktik zurückgeben. Dafür braucht es klare Leitlinien, datenschutzkonforme Tools, robuste IT und Fortbildung, die direkt im Unterricht ansetzt.

News4teachers: Haben Schulleitungen dafür überhaupt Zeit?

Udo Beckmann: Nein, aktuell nicht. Die vorhandene Leitungszeit reicht bei weitem nicht aus. Schulleitungen sind häufig die Letzten, die abends das Licht ausmachen.

News4teachers: Wie erleben Sie die Stimmung unter Schulleitungen?

Udo Beckmann: Ich sehe einen großen Willen zur Veränderung. Viele möchten neue Technologien sinnvoll nutzen. Gleichzeitig sind Schulleitungen an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Aber ich sehe wenig Resignation – vielmehr viel Bereitschaft zum Aufbruch.

Ein Punkt ist mir wichtig: Schulen funktionieren so gut, wie sie geführt werden. Schulleitungen – gerade in Grund-, Haupt- und Realschulen – brauchen Teams, um Schule entwickeln zu können. Allein durchziehen funktioniert heute nicht mehr. Schulleitungen brauchen verlässliche Rahmenbedingungen und ein Team an ihrer Seite. Zudem braucht es mehr Funktionsstellen an Schulen, um Verantwortung zu verteilen. Das eröffnet auch Lehrkräften neue Karrierewege – eine Art mittleres Management. Nur mit starken Schulleitungen und tragfähigen Teams kann Schule in einer komplexer werdenden Welt bestehen und sich weiterentwickeln.

News4teachers: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer alten Schule?

Udo Beckmann: Nein, die Schule gibt es nicht mehr. Es war eine Hauptschule, die später mit einer anderen Schule zusammengelegt wurde. Allerdings sind die Probleme im Umfeld nach wie vor da – sie sind eher noch größer geworden. News4teachers / Andrej Priboschek führte das Interview

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