MANNHEIM. Mit ihrem Aufruf „Kita-Kindeswohl-im-Blick“ löste Veronika Verbeek – Psychologin und Professorin an der Internationalen Hochschule Mannheim – eine heftige fachliche Debatte aus. Sie warnte darin: „Die aktuelle Kita-Pädagogik birgt Risiken für Kinder.“ Nun legt sie mit einem wissenschaftlichen Papier nach. Darin begründet sie ihre fünf Thesen systematisch – und zwar mit entwicklungspsychologischer, lernpsychologischer und klinisch-psychologischer Evidenz. Dass sie damit aufrütteln will, daraus macht die Professorin keinen Hehl: Ihr Beitrag sei bewusst „nicht ausgewogen“.
Verbeek schreibt, die aktuelle Debatte sei geprägt von einer „Konsens-Rhetorik“, die Risiken frühkindlicher Bildungspolitik eher verdecke als kläre. Sie wolle deshalb „die psychologische Expertise, die derzeit unterrepräsentiert ist, wieder stärker in den Diskurs einbringen“. Deshalb legt sie nun mit einem 24-seitigen Papier nach (hier geht es zum News4teachers Bericht über ihre ursprüngliche Stellungnahme).
These 1: U2-Betreuung – gut für den Arbeitsmarkt, aber nicht automatisch gut für Kinder
Verbeek formuliert ihre These klar: Sehr frühe und sehr lange Krippenbetreuung kann Kinder messbar stressen – und dieser Stress kann entwicklungspsychologische Risiken nach sich ziehen. Die politische Rahmung suggeriere jedoch, „als sei frühe Betreuung automatisch frühe Bildung“, während gleichzeitig ausgeblendet werde, „dass Kinder im U2-Alter besonders vulnerabel für Stress und Bindungsirritationen sind“.
Zur Begründung zieht sie bindungs- und stresspsychologische Forschung heran. Die Fachkraft-Kind-Beziehung sei „professionell, gruppenbezogen und nicht von Dauer“, während die elterliche Bindung ein „exklusives, körpernahes, lebenslanges Band“ darstelle. Unter Bedingungen großer Gruppen und hoher Belastung könne die pädagogische Beziehung diese Funktion nicht stabil ersetzen.
Als empirischen Beleg nennt Verbeek u. a. das Berliner Projekt „Stimulation oder Stress?“. Dort habe sich gezeigt: „36 Prozent der beobachteten Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr haben eine unsichere Bindung zur pädagogischen Fachkraft aufgebaut.“
Die Professorin verweist zudem auf die Meta-Analyse von Vermeer & van IJzendoorn (2006), wonach „Kinder erhöhte Cortisollevels im Tagesbetreuungssetting zeigen“. Ergänzend benennt sie Studien von Ahnert et al., die „Protestverhalten, Stressreaktionen und geringe Involviertheit“ während der Eingewöhnung dokumentieren. Verbeeks Schlussfolgerung: Man müsse „die Risiken extensiver U2-Betreuung gegenüber Eltern deutlicher kommunizieren“ und familienpolitisch stärker auf „längere, geschlechteregalitäre Elternzeiten“ setzen.
These 2: Das Selbstbildungsparadigma – ein Leitbild ohne solide Begründung
Im Zentrum steht die Kritik am derzeit dominanten Selbstbildungsparadigma. Gemeint ist die Idee, dass Kinder ihre Bildungsprozesse primär selbst steuern, während Erwachsene moderierend im Hintergrund bleiben. Verbeek erklärt: „Bildung kann nicht mit Selbstbildung gleichgesetzt werden.“ Vielmehr bestehe Bildung immer aus „Konstruktion, Ko-Konstruktion und Instruktion“. Zentral ist für sie der Begriff der Selbstregulation – die Fähigkeit, Aufmerksamkeit zu steuern, Impulse zu kontrollieren, Frust auszuhalten und Aufgaben zu planen. Genau diese Kompetenzen würden vor allem durch strukturierte und angeleitete Lernprozesse gefördert.
Im O-Ton schreibt sie: „Es fehlt eine solide wissenschaftliche Begründung für die Reduktion auf Selbstbildung.“ Verbeek stellt dem Folgen für die Bildungsbenachteiligung entgegen: „Häuslich bedingte Bildungsunterschiede werden in offenen Lernumgebungen vergrößert statt verringert.“ Kinder mit geringer Selbstregulation oder ohne familiäre Förderung seien hier „strukturell benachteiligt“.
These 3: Partizipation – sinnvoll, aber oft missverstanden
Verbeek bekennt sich klar zur Beteiligung von Kindern. Ihre Kritik richtet sich nicht gegen das Prinzip, sondern gegen dessen Umsetzung. Es werde zunehmend gefordert, Kinder an Entscheidungen zu beteiligen, „ohne entwicklungspsychologische Grenzen zu beachten“. Sie warnt vor einem häufig zu beobachtenden „permissiven Erziehungsstil“. Gemeint ist eine nachgiebige Haltung, bei der Erwachsene Kindern zu viel Entscheidungsspielraum lassen, aber zu wenig Halt geben. Verbeek schreibt: „Haltgebende Autorität muss als bedeutsam für die kindliche Entwicklung gewürdigt werden.“
In einem längeren O-Ton formuliert sie: „Partizipation darf nicht bedeuten, dass Erwachsene ihre strukturgebende Rolle aufgeben. Kinder werden überfordert, wenn sie Entscheidungen treffen sollen, für die ihnen die kognitive Reife fehlt.“
These 4: Einseitige Stärkenorientierung – wenn Stärkenblätter Diagnostik ersetzen
Verbeek stellt ausdrücklich klar, dass Stärkenorientierung grundsätzlich ein wichtiges pädagogisches Prinzip ist. Sie schreibt: „Stärkenorientierung verdeutlicht einen wichtigen unterstützenden Umgang mit dem Kind.“ Gemeint ist damit: Kinder sollen erleben, was sie können – nicht nur, wo sie Förderbedarf haben.
Problematisch wird es aus ihrer Sicht aber dann, wenn Stärkenorientierung so interpretiert wird, als dürfe man über Entwicklungsrisiken nicht mehr sprechen. Genau diese Fehlinterpretation beobachtet sie in vielen pädagogischen Konzepten: „Die Kritik richtet sich gegen die irrtümlich mit der Stärkenorientierung verbundene Abwertung der frühzeitigen Ermittlung von Lern- und Entwicklungsbedarfen.“
Diese Verschiebung führt laut Verbeek zu einer konkreten diagnostischen Lücke. Anstelle verlässlicher, wissenschaftlich fundierter Verfahren werde in vielen Einrichtungen zunehmend auf narrative Beobachtungsformen gesetzt: „Statt eines Entwicklungsscreenings […] wird zunehmend die Bildungsdokumentation genutzt.“ Diese Form der Dokumentation hält zwar Lernfortschritte fest, ersetzt aber keine Diagnostik – weil sie keine Vergleichsnormen, keine Screening-Logik und keine Sensitivität für Risikofaktoren besitzt. Genau deshalb weist Verbeek warnend darauf hin: „Fehlen wissenschaftlich fundierte Entwicklungsscreenings, ist die Prävention von Verhaltensstörungen erschwert.“
Die Konsequenz: Entwicklungs- und Verhaltensprobleme werden häufig erst spät erkannt – oft erst im Schulalter. Was im Kita-Alter leicht zu fördern gewesen wäre, erscheint dann plötzlich als gravierendes Problem.
These 5: Psychiatrisierung – wenn pädagogische Probleme zu Störungen werden
Verbeeks fünfte These lautet, dass pädagogische Probleme in der Kita zunehmend psychiatrisiert und medikalisiert werden – also zu schnell als psychische Störungen gedeutet und an Psychologie oder Psychiatrie weitergereicht werden, obwohl sie häufig pädagogisch lösbar wären.
Zur Begründung führt sie mehrere empirische Befunde an. Zentral zitiert sie Mauz et al. (2020): „18 Prozent der Kita-Kinder zeigen ernsthafte emotionale Probleme, Probleme mit Gleichaltrigen, Verhaltensprobleme und Hyperaktivität“ – bei Kindern aus belasteten Familien seien es sogar 31 Prozent.
Der entscheidende Punkt für Verbeek: Viele dieser Auffälligkeiten sind keine klinischen Störungen, sondern entwicklungsbedingte oder umfeldbedingte Probleme, die sich pädagogisch auffangen ließen. Deshalb verweist sie auf „höchst effektive“ Programme der frühen Förderung, etwa im Bereich Selbstregulation, Sozialkompetenz und Verhaltenssteuerung. Ihre Kritik richtet sich gegen einen Mechanismus, der nach ihrer Beobachtung in der Praxis häufig vorkommt: „Erziehungsprobleme, die nicht mit erzieherischen Mitteln […] angegangen werden, werden häufig vorschnell als ‚Störungen‘ an Psychologie oder Psychiatrie delegiert.“
Als Beispiel nennt sie ADHS – eine Diagnose, die in der Literaturevidenz „als Beispiel für Überdiagnostik und medikamentöse Übertherapie“ geführt werde.
Fazit: Eine Einladung, Grundannahmen neu zu prüfen
Im Schlusskapitel betont Verbeek, ihr Beitrag sei bewusst „nicht ausgewogen“, sondern wolle die derzeit verdrängte psychologische Perspektive sichtbar machen. Bildung müsse „differenziert betrachtet werden“, da Kinder sehr unterschiedliche Voraussetzungen hätten. Ihre zentrale Forderung lautet: „Bildung umfasst Konstruktion, Ko-Konstruktion und Instruktion, die wieder in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden sollten.“
Damit ist gemeint: Kita-Pädagogik darf nicht fast ausschließlich auf Selbstbildung beruhen. Kinder lernen durch freies Spiel (Konstruktion) – aber ebenso durch gemeinsames Denken im Dialog mit Erwachsenen (Ko-Konstruktion) und durch gezielte, angeleitete Förderung (Instruktion). Diese Balance sei vielerorts verloren gegangen und müsse wiederhergestellt werden, damit Kinder – gerade belastete oder jüngere – tatsächlich alle notwendigen Entwicklungsschritte machen können. News4teachers
Hier lässt sich Verbeeks vollständige Stellungnahme herunterladen.
Mehrere wissenschaftliche Fachverbände der frühen Kindheit hatten den ursprünglichen Aufruf „Kita-Kindeswohl-im-Blick“ von Professorin Veronika Verbeek scharf kritisiert. Die Stellungnahme nutze verkürzte, irreführende, wissenschaftlich unhaltbare und falsche Darstellungen, die Verunsicherung bei Fachkräften und Eltern schüren.
„In der Begleitung von Kitas erleben wir, wie pädagogische Teams auf wissenschaftlicher Basis qualitätsvolle Kita-Praxis gestalten und sich weiterentwickeln – unbelegte Pauschalkritik wie der Aufruf von Frau Verbeek verunsichert Eltern, entwertet die Arbeit der Fachkräfte und behindert eine konstruktive Weiterentwicklung der frühen Bildung“, sagte Anne-Katrin Pietra, 2. Vorsitzende des Bundesnetzwerks Fortbildung und Beratung in der Frühpädagogik e. V.. Durch pauschalisierende Kritik an Krippenbesuchen und der undifferenzierten Forderung nach „mehr Anleitung von Kindern“ in Kindertageseinrichtungen biete er rechten Strömungen eine Plattform für autoritäre Pädagogik. Die vollständige Kritik ist hier nachzulesen.
Verloren im Kita-Stress: Warum immer mehr Kinder schon überfordert in der Grundschule ankommen
