KIEL (Mit Kommentar). Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) Schleswig-Holstein will bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen, um «einem Menschenrecht auf Streik auch in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen». Das kündigte die GEW in Kiel an.
Zuvor hatte das schleswig-holsteinische Verwaltungsgericht die Klagen von sechs Lehrern gegen disziplinarische Verweise des Bildungsministeriums abgewiesen. Anfang Juni 2010 hatten laut GEW 2000 verbeamtete Lehrer in Schleswig-Holstein für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Das Bildungsministerium hatte daraufhin die Verweise erteilt.
«Das negative Urteil haut uns nicht um», sagte GEW-Landesvorsitzender Matthias Heidn. «Uns war immer klar: Eine endgültige Entscheidung über das Streikrecht für verbeamtete Lehrer wird nicht in Schleswig, sondern in Straßburg fallen.» Das Verwaltungsgericht halte nach Meinung der GEW an einem «unzeitgemäßen und vordemokratischen Streikverbot» fest.
Die Frage, ob verbeamtete Lehrer streiken dürfen, hat bereits mehrere deutsche Gerichte beschäftigt. Das Oberverwaltungsgericht Münster entschied im März in zweiter Instanz, das verbeamteten Lehrern kein Streikrecht zukommt. Das Verwaltungsgericht Kassel hatte dagegen im vergangenen Jahr geurteilt, dass ihnen das Streikrecht nicht abgesprochen werden darf. Beamte dürfen danach streiken, sofern sie keine hoheitlichen Aufgaben erfüllen.
Hoheitlich tätige Beamte sind nach internationalem Rechtsverständnis Mitglieder der Streitkräfte, Polizisten und Beamte der Staatsverwaltung. Die Kasseler Richter schlossen sich damit der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an, der türkischen Staatsbediensteten ein Streikrecht zugebilligt hatte. Das Verwaltungsgericht ließ allerdings die Berufung zum Hessischen Verwaltungsgerichtshof zu – diese Verhandlung steht noch aus. Geklagt hatten zwei Lehrer aus Hessen, die ebenfalls 2009 einem Streikaufruf der GEW gefolgt waren. Sie waren dem Dienst drei Stunden lang ferngeblieben. Wegen Verstoßes gegen ihre Dienstpflicht erhielten sie vom Schulleiter eine schriftliche Missbilligung. Die GEW, die den Klägern Rechtsschutz gewährt hatte, begrüßte seinerzeit das Urteil.
Kurz darauf ließ in einem weiteren, vergleichbaren Fall das Verwaltungsgericht Osnabrück in einem Urteil laut GEW zwar Sympathie für die in Kassel vertretene Rechtsauffassung erkennen, sah sich als Gericht der ersten Instanz aber nicht in der Lage, von der bislang höchstrichterlich formulierten Position – dem Streikverbot für Lehrer – abzuweichen. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hatte zuvor der GEW zufolge einen Mittelweg gewählt: Nach deutschem Beamtenrecht sei die Streikteilnahme zwar ein Dienstvergehen, aber wegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dürfe sie nicht bestraft werden.
Widerspruch vom Deutschen Lehrerverband
Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, betonte seinerzeit, er habe kein Verständnis für das Kasseler Urteil: “Die Tätigkeit der Lehrerschaft an Schulen ist sehr wohl eine hoheitliche Aufgabe. Denn Lehrer greifen mit ihren schulrechtlichen Entscheidungen in Grundrechte ein, indem sie etwa Schülern aufgrund schulischer Leistungen Abschlüsse zuerkennen oder verweigern. Das ist nicht nur staatliche Leistungsverwaltung, sondern staatliche Eingriffsverwaltung, die in die Hand von verbeamteten Hoheitsträgern gehört. Das Streikverbot der verbeamteten Lehrer und die Friedenspflicht der angestellten Lehrer korrespondiert mit der Schulpflicht der Schüler, deren Bildungsrechte durch ein Streikrecht der Lehrer verletzt werden würden.”
Das Streikverbot für Lehrer schütze den Bildungsanspruch der Schüler, so sagte Kraus weiter: “In Ländern ohne Streikverbot für Lehrer wird zum Teil sogar der Prüfungsbetrieb am Ende eines Jahres lahmgelegt, es verzögert sich der Übergang ins Berufsleben und Studium, weil Lehrer wochenlang streiken.”
Auch der Lehrerverband Bildung und Erziehung (VBE) sieht das von der GEW angestrebte Streikrecht kritisch. Lehrer gewährleisteten die Funktionsfähigkeit eines Staates. „Vor dem Hintergrund der in Deutschland bestehenden Schulpflicht ist das nur in einem Beamtenstatus möglich“, sagte VBE-Vorsitzender Udo Beckmann. Das Interesse des Bürgers, Kinder zu aktiven Teilhabern einer Gesellschaft zu formen, bedürfe eines Apparats, der unabhängig von Arbeitskampfmaßnahmen dauerhaft und lückenlos funktioniere. NINA BRAUN, mit Material von dpa
(10.8.2012)
