PARIS. Mittlerweile rund 2500 Professoren, Schulleiter und Lehrer aus der ganzen Welt haben einen offenen Brief an PISA-Organisator Andreas Schleicher unterzeichnet – Tenor: „Durch das Messen einer großen Vielfalt von Bildungstraditionen und -kulturen mit einem engen und einseitigen Maßstab kann am Ende unseren Schulen und unseren Schülern irreparabler Schaden zugefügt werden.” Die Unterzeichner fordern, zumindest den nächsten Test auszusetzen. Schleicher wehrt sich gegen die Kritik.
In Deutschland haben sich dem Aufruf mittlerweile rund 400 Unterzeichner angeschlossen, darunter auch Vertreter von Lehrerverbänden. „Wir können nicht verstehen, wie die OECD zum globalen Schiedsrichter über Mittel und Ziele von Bildung in der ganzen Welt werden konnte”, heißt es in dem Schreiben. Die enge Ausrichtung der OECD auf standardisierte Tests drohe Lernen in Pedanterie zu verwandeln und Freude am Lernen zu beenden. Durch den von PISA stimulierten internationalen Wettlauf um Testergebnisse habe die OECD die Macht erhalten, weltweit Bildungspolitik zu bestimmen, ohne jede Debatte über die Notwendigkeit oder Begrenztheit der OECD-Ziele. PISA habe den ohnehin schon hohen Grad an Stress an den Schulen weiter erhöht und gefährde das Wohlbefinden von Schülern und Lehrern.
Als Organisation für wirtschaftliche Entwicklung sei die OECD naturgemäß auf die ökonomische Rolle der öffentlichen Schulen fokussiert. Aber die Vorbereitung auf einträgliche Arbeit könne nicht das einzige Ziel öffentlicher Bildung und Erziehung sein. „Unser Schulwesen muss Schülerinnen und Schüler auch auf die Mitwirkung an der demokratischen Selbstbestimmung, auf moralisches Handeln und auf ein Leben in persönlicher Entwicklung, Reifung und Wohlbefinden vorbereiten.”
Die Autoren warnen vor einem „PISA-Regime”: „Um PISA und eine große Zahl daran anschließender Maßnahmen durchzuführen, ist die OECD ‚Public Private Partnerships‘ und Allianzen mit multinationalen, profitorientierten Unternehmen eingegangen, die bereitstehen, um aus jedem von PISA identifizierten – realen oder vermeintlichen – Bildungsdefizit Profit zu schlagen. Einige dieser Firmen verdienen an den Bildungsdienstleistungen die sie für öffentliche Schulen und Schulbezirke bereitstellen. Diese Firmen verfolgen u. a. auch Pläne, eine profitorientierte Grundschulbildung in Afrika zu entwickeln, wo die OECD derzeit plant, PISA einzuführen.”
Schließlich werden in dem Brief auch mögliche neue Wege aufgezeigt. So seien aussagekräftigere und weniger sensationsheischende Wege für Bildungsvergleiche zu finden. Es sei zum Beispiel weder pädagogisch noch politisch sinnvoll, Entwicklungsländer, in denen 15-Jährige regelmäßig zur Kinderarbeit verpflichtet werden, mit Ländern der Ersten Welt zu vergleichen. Auch sollten alle relevanten Akteure einbezogen werden: Eltern, Pädagogen, Vertreter der Bildungsverwaltung, Studenten und Schüler ebenso wie für Wissenschaftler aus Disziplinen wie der Anthropologie, Soziologie, Geschichte, Philosophie, Linguistik wie auch der Kunst und den Geisteswissenschaften. Um Zeit für die Diskussion all dieser Aspekte auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene zu gewinnen, heißt es, wäre es nützlich, den nächsten PISA-Zyklus auszusetzen. Dieser ist für Oktober 2015 angesetzt.
In einem Interview mit Deutschlandradio Kultur setzt sich Schleicher zur Wehr. „Vielleicht hat PISA den Leistungsgedanken in dem Schulsystem stärker hervorgehoben, das hat aber durchweg positive Auswirkungen“, sagte er. So habe sich in Deutschland seit der ersten PISA-Studie viel verbessert: Das Leistungsniveau sei deutlich gestiegen,ebenso wie die Verteilung von Bildungschancen, der Einfluss des sozialen Hintergrunds auf die Bildungsleistung, die Leistung von Schülern mit Migrationshintergrund. Schleicher: „Bei all diesen Themen sind wichtige Fortschritte festzustellen.“
Dass mit PISA wirtschaftliche Interessen von Unternehmen verbunden seien, bezeichnete Schleicher als „Quatsch“. Er sagte: „PISA wird von den Bildungsbehörden der teilnehmenden Länder gesteuert. An der Umsetzung arbeiten Wissenschaftler aus Universitäten, Instituten aller Länder, die dort teilnehmen. Es ist ein wissenschaftliches Projekt, es geht dort nicht um irgendwelche Interessen von Unternehmen.“
Aber verengt PISA nicht tatsächlich den Bildungsbegriff? Schleicher: „Das ist ein Missverständnis. Natürlich testen wir Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz, es werden aber auch fächerübergreifende Kompetenzen getestet, zum Beispiel, inwieweit sich junge Menschen in diesem komplexen Leben positionieren können. Es werden Einstellungen nachgefragt, inwieweit zum Beispiel Schule ein Lernraum ist, in dem Schüler sich wohlfühlen – Einstellungen zum Lernen, Lernstrategien, all die Dinge, die im Grunde heute Voraussetzung sind für Erfolg. Wir fangen jetzt an mit dem Testen von gruppenbasierten Problemlösekompetenzen, sozialen Kompetenzen. Ich denke, da erfasst PISA ein breites Spektrum von Kompetenz, die heute wichtig ist. Das ist nicht alles, was man im Leben braucht, aber es sind wichtige Grundvoraussetzungen.“ News4teachers
Hier geht es zu dem offenen Brief und der Unterschriftenaktion.
Hier geht es zum Kommentar: Die PISA-Studie – nicht schön, aber notwendig