HAMBURG. Unruhiges Verhalten im Unterricht und Konzentrationsschwierigkeiten – diese Anzeichen lassen nicht nur bei Lehrern den Verdacht auf eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS, aufkommen. Eine Studie der Erziehungswissenschaftlerin Nicole Becker legt nun jedoch nahe, dass Lehrer Schüler möglicherweise zu oft für krankhaft hyperaktiv erklären.
Anhand ihrer Untersuchung ermittelte Nicole Becker, dass der erste Verdacht auf das sogenannte „Zappelphilipp-Syndrom“ häufig von Lehrern stammte, manchmal auch von Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen. Das berichtet die Erziehungswissenschaftlerin in einem Interview mit der Online-Ausgabe der Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Nur vier von 21 Kindern, die in Verdacht standen, unter der Aufmerksamkeitsstörung zu leiden, wurden in ihrer Studie tatsächlich mit ADHS diagnostiziert. „Die meisten hatten andere Probleme, wie etwa emotionale Störungen oder Störungen des Sozialverhaltens. Es gab aber auch Kinder, bei denen gar keine klinisch relevanten Auffälligkeiten festgestellt wurden“, zitiert Zeit-Online die Erziehungswissenschaftlerin.
Nicole Becker sieht vor allem zwei Gründe als ausschlaggebend für falsche Verdachtsfälle: Zum einen identifizierten Pädagogen oft einzelne Verhaltensweisen an Kindern als typisch für ADHS, die aber, für sich genommen, nicht ausreichen, um die Diagnose zu stellen und zum anderen brächten sie Probleme mit ADHS in Verbindung, die nicht zum Störungsbild gehören. Gibt es mit einem Kind viele Konflikte und Spannungen, weise das beispielsweise nicht auf das Zappelphilipp-Syndrom hin, so Becker gegenüber Zeit-Online. Als eine mögliche Ursache für auffälliges Verhalten nennt Becker das Gefühl der Überforderung, das beispielsweise Unterrichtskonzepte auslösen könnten, die ein hohes Maß an Selbstständigkeit verlangen. Einige Kinder müssten dann „zunächst mal lernen, sich zu organisieren und zu konzentrieren.“ Das könne dazu führen, dass sie sich ausklinken und lieber mit etwas anderem beschäftigen.
Daneben existieren noch zahlreiche weitere Thesen zu den Ursachen auffälligen Verhaltens bei Kindern. Nach Angaben von Schlafforschern des Robert-Koch-Krankenhauses Apolda würden oft auch die Folgen von Schlafstörungen fälschlicherweise als ADHS-Symptome interpretiert, denn unausgeschlafene Kinder seien zappelig und unaufmerksam. Die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung geht davon aus, dass bei etwa 20 Prozent aller Kinder Schlafstörungen auftreten. Eine andere Erklärung liefern kanadische Forscher von der University of British Columbia in Vancouver. Demnach wird bei früh eingeschulten Kindern besonders häufig zu Unrecht eine Aufmerksamkeitsstörung diagnostiziert und behandelt. Die Forscher gehen davon aus, dass das im Verhältnis zu den älteren Klassenkameraden unreifere Verhalten irrtümlich als krankhaft angesehen werde.
Unabhängig davon, welche Ursachen tatsächlich hinter dem Verhalten steckt, das als ADHS gedeutet wird, seien Eltern Becker zufolge letztlich alle bereit, Medikamente zu Therapiezwecken einzusetzen. Die Präparate, wie Ritalin, sollen dabei den schulischen Abstieg des Kindes verhindern, zitiert Zeit-Online die Erziehungswissenschaftlerin. Insgesamt hat aber die Zahl der Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 17, die mit Medikamenten gegen ADHS behandelt werden, von 2009 bis 2012 nach Angaben der Techniker Krankenkasse um 3,4 Prozent abgenommen. Eine aktuelle Statistik des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zeigt sogar, dass der Konsum des zentralen Ritalin-Wirkstoffs Methylphenidat im vergangenen Jahr erstmals zurückgegangen ist. Danach wurden 2013 bundesweit 1803 Kilogramm Methylphenidat verbraucht, zwei Prozent weniger als noch 2012. mit dpa
Zum vollständigen Interview mit Nicole Becker auf Zeit-Online: Entspannt euch!
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