STUTTGART. Wie viel vom humboldtschen Bildungsideal brauchen Schulen – vor allem Gymnasien – heute noch? Anlässlich der bundesweit Aufsehen erregenden Twitter-Botschaft der Kölner Schülerin Naina zum mangelnden Praxisbezug des Unterrichts, warnt jetzt auch der Verband Bildung und Erziehung vor einer zu einseitigen Bevorzugung der meist auf den Intellekt ausgerichteten schulischen Arbeit – und beruft sich auf Pestalozzi.
Eltern und Wirtschaft sollten bei der Würdigung von Schülerleistungen weg von einer zu einseitigen Fokussierung auf die Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Fremdsprache(n). Musisch-künstlerische Unterrichtsfächer, Technik und Schulsport seien kein schmückendes Beiwerk zur Entspannung, sondern für eine positive Entwicklung der Schülerpersönlichkeit gleichfalls notwendig, so der Verbandssprecher.
Unterrichtsfächer, die zumindest gefühlsmäßig für das schulische und berufliche Weiterkommen nicht ausschlaggebend seien, würden immer mehr an den Rand gedrängt und verlören an Bedeutung. So seien die musisch-ästhetische Erziehung und der Schulsport heute oft ungeliebte Kinder. Deshalb warnt der baden-württembergische Verband Bildung und Erziehung (VBE) erneut vor einer zu starken „Verkopfung“ des schulischen Arbeitens. Da auch Eltern mehr denn je auf die berufliche Verwertbarkeit der Unterrichtsfächer achteten, fielen, wenn Lehrer fehlten, in der Regel eher Musik, Sport und bildende Kunst aus, bevor eine Deutsch- oder Mathematikstunde gestrichen werde. Die Schüler seien jedoch auf eine ganzheitliche Bildung und Erziehung angewiesen, in der auch Ästhetik, Bewegung und Emotionen eine tragende Rolle spielen sollten.
Wenn um die Bedeutung der einzelnen Unterrichtsfächer gestritten werde, gehe es meist lediglich darum, ob eine sprachliche oder technisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung der Schule die Wichtigere sei. Der künstlerisch-musisch-sportliche Bereich werde von vielen mehr als schmückendes, aber nicht unbedingt notwendiges Beiwerk betrachtet, bedauert der VBE-Sprecher. Pestalozzis 200 Jahre alter pädagogischer Ansatz ganzheitlichen Lernens „mit Kopf, Herz und Hand“ sollte in der stark technisierten Welt von heute mehr denn je Maxime unterrichtlichen Tuns sein – und das nicht nur in den Grundschulen. Und dabei gehe es keinesfalls lediglich um die Fähigkeit, Formulare korrekt ausfüllen zu können, wie die Twitterin angemahnt hatte.
Auch Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835), auf den das humboldtsche Bildungsideal zurückgeht, ging von einer ganzheitlichen Bildung aus – durch die Auseinandersetzung mit der antiken Kultur. Humboldt stand (und steht bis heute) für eine strikte Trennung von allgemeiner Menschenbildung und fachlicher Berufsbildung.