BAMBERG. Das deutsche Schulsystem ist spätestens seit den 1970er Jahren durchlässiger geworden. Der Erwerb eines höheren Schulabschlusses auf dem zweiten Bildungsweg steht prinzipiell jedermann offen. Das nutzen auch erstaunlich viele junge Menschen. Gegen die Bildungsungleichheit hilft das aber wenig, wie jetzt eine Studie aus Bamberg zeigt.
Neue Schule, neue Mitschüler, neue Fächer: Damit beginnen in diesen Tagen tausende deutsche Fünftklässler die Haupt- oder Realschule oder das Gymnasium. Welche Schulform sie besuchen, hängt in Deutschland immer noch stark vom Elternhaus ab, wie internationale Vergleichsuntersuchungen belegen.

Es gibt zwar seit über 50 Jahren alternative Wege, um einen höheren Abschluss nach dem ersten zu erreichen, doch die Forschung ging bislang davon aus, dass diese nicht von einer breiten Masse genutzt werden. Eine neue Studie der Bamberger Professorin Sandra Buchholz zeigt: Das Schulsystem ist deutlich durchlässiger als angenommen. Gegen Bildungsungleichheit nützt das aber wenig.
Für ihre Studie wertete die Soziologin gemeinsam mit Antonia Schier vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe, anhand des Nationalen Bildungspanels (NEPS) die Daten von mehr als 2.200 Menschen aus. Alle von ihnen hatten als ersten Bildungsabschluss entweder einen Hauptschulabschluss oder die Mittlere Reife erworben.
Die Wissenschaftlerinnen fragten: Wie viele von ihnen haben danach einen zweiten, höheren Schulabschluss erworben? Um darüber hinaus Effekte auf die Bildungsungleichheit zu ermitteln, analysierten sie außerdem die Noten der Schülerinnen und Schüler und den höchsten Bildungsabschluss der Eltern.
Sie zeigen: 27 Prozent der Untersuchten machten nach der Haupt- oder Realschule weiter und erarbeiteten sich einen höheren Abschluss. „Dass fast jeder Dritte sich für einen höheren Schulabschluss entscheidet, hat uns sehr überrascht“, so Buchholz. „Die Wissenschaft nahm an, dass eine unvorteilhafte Zuordnung nach der Grundschule kaum korrigierbar ist. Das deutsche Schulsystem galt bislang als besonders rigide – das ist aber nach diesen Ergebnissen nicht haltbar.“
In der Regel schließen die Schülerinnen und Schüler einen weiteren Schulabschluss direkt an den ersten an. Sie wählen zum Beispiel nach der Mittleren Reife eine Fachoberschule, Berufsschule oder wechseln auf ein Gymnasium – je nach Bundesland heißen die Einrichtungen anders.
Erstaunliche Erkenntnisse brachte der Blick auf die Hauptschulen: Ein Drittel der Hauptschüler, die sich für weitere Schulabschluss entschieden, erreichten das Fachabitur oder Abitur. Buchholz sagt: „In dieser Gruppe haben wir eine extrem hohe Mobilität vorgefunden.“
Das Schulsystem ist also durchlässiger als angenommen. Allerdings zeigte die neue Bamberger Studie deutlich: Nicht unbedingt die begabtesten und fleißigsten Kinder nutzen diese Wege. Besonders wichtig neben guten Noten ist, wie bereits bei der Wahl der weiterführenden Schule, die soziale Herkunft der Kinder.
Der Bildungsabschluss der Eltern sei ein sehr einflussreicher und stabiler Faktor für die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen höheren Abschluss nach dem ersten anstrebt. Vier von zehn Schülerinnen und Schülern, deren Eltern das Abitur abgelegt hatten, wählten eine weiterführende Bildung nach dem ersten Abschluss. Hatten die Eltern einen Hauptschulabschluss, lag dieser Wert bei gut 20 Prozent, also lediglich bei der Hälfte.
Die Ursachen für diese Unterschiede finden Soziologen wie Buchholz und ihr Bamberger Kollege Prof. Dr. Steffen Schindler einerseits in dem Wunsch der Kinder, den eigenen Status zu erhalten, also zumindest den Abschluss zu erreichen, den die Eltern erlangten. Daneben gibt es eine weitere Erklärungsmöglichkeit: „Die Untersuchten haben vermutlich die Kosten und den Nutzen der weiterführenden Bildungsangebote unterschiedlich bewertet“, so Buchholz. Diese bedeuten auch immer, Zeit und Geld in die eigene Bildung zu investieren und noch etwas länger auf das erste Gehalt zu verzichten.
Die Studie von Buchholz und Schier zeigt: Vor allem diejenigen, die ohnehin privilegierten sozialen Gruppen angehören, nutzen Aufstiegschancen. Das bestehende System reduziert die Ungleichheiten im deutschen Schulsystem also nicht. „Im Gegenteil“, sagt Buchholz. „Es verstärkt sie sogar.“
Ein Befund, den auch Forscher wie Margret K. Sterrenberg von der Universität Hannover bestätigen können, die Daten des NEPS im Hinblick auf die Arbeitsmarkterträge später Hochschulreife ausgewertet hat. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass der Abschluss einer Hochschulreife bis zum 25. Lebensjahr gute Chancen biete, langfristig gleiche Arbeitsmarkterträge zu erreichen, wie über den Ersten Bildungsweg. Bei einem Abschluss nach dem 25. Lebensjahr würden Lohnvorteile – im Vergleich zu einem Mittleren Abschluss – im Mittel nicht mehr erreicht. Außerdem nutzten Absolventen des Zweiten Bildungsweges indirekte Arbeitsmarktvorteile durch ein Studium deutlich weniger als Abiturienten des Ersten Bildungsweges, die schon in der Sekundarstufe I das Gymnasium besuchten.
Untersuchungen mit aktuellen Daten sollen im kommenden Jahr Aufschluss über die Ursachen dieser Prozesse bringen. Buchholz will darin unter anderem beleuchten, unter welchen Umständen Schulabgänger sich für einen weiteren Bildungsabschluss entscheidet. „Doch jetzt schon ist klar: Bildungsungleichheiten spielen während der gesamten Schullaufbahn eine Rolle“, sagt Buchholz. (zab, PM)
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