Ein Kommentar von ANDREJ PRIBOSCHEK
DÜSSELDORF. Deutschland scheint sich an schlechte Nachrichten aus der Bildung gewöhnt zu haben. Hatte das nur mittelmäßige Abschneiden bei der ersten PISA-Studie 2002 noch zu einem „Schock“ geführt, so wirkte die öffentliche Debatte um die ebenfalls nur mittelmäßigen bis schlechten Ergebnisse bei den Computer-Kompetenz-Studien ICILS und, aktuell, PISA unaufgeregt, ja in Teilen nahezu wurschtig. Tenor: Ja, und? Umso erfreulicher, dass die Politik offenbar nun die Zeichen der Zeit erkennt. Die Bundesländer kommen durch die Initiative der Großen Koalition unter Zugzwang: Wie wollen sie in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen noch längere Zeit erklären, dass die IT-Ausstattung ihrer Schulen “mittelalterlich” (VBE-Vorsitzender Beckmann) ist?
Wichtig wäre es allerdings nun, für öffentlichen Druck zu sorgen – wie es der VBE tut. Viele Medien wirken hingegen eher als Bremser. So fragt etwa der Lehrer und Autor Arne Ulbricht in der „Süddeutschen Zeitung“ mit Blick darauf, dass deutsche Schüler in Sachen Medienkompetenz lediglich auf dem Niveau von Russland liegen: „Warum soll das eine schlechte Nachricht sein?“ – und plädiert für einen analogen Unterricht. Eine Entgegnung.
„Wieder einmal droht Deutschland abgehängt zu werden“, schreibt Ulbricht, findet das aber nicht schlimm, denn: „Man kann die Sache aber auch andersherum sehen: Das volldigitalisierte Klassenzimmer wäre ein Horror.“ Seine Kernargumente: „Abgesehen von bestimmten Lernphasen ist Unterricht ein Mannschaftssport“, und der vertrage sich nicht mit dem Blick auf den Bildschirm. Und: „Es mag verlockend sein, sich im Homeoffice von Lernvideos oder auf einer genial konzipierten Matheseite Mathe erklären zu lassen, wenn der Mathelehrer es nicht gut kann“, meint der Autor. „Dennoch bedeutet der Mathelehrer für das Leben eines Heranwachsenden mehr als eine Mathe-App. Der Lehrer ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und kein iPad aus Aluminium und Glas.“ Auch das aus seiner Sicht stärkste Argument für digitalisierten Unterricht – die größere Motivation der Schüler – lässt Ulrich nicht gelten: „Soll man im Deutschunterricht nicht mehr den Film ‚Woyzeck‘ analysieren, sondern ‚Fack Ju Göhte“ (…), nur weil die meisten Schüler das lustiger finden?“ Natürlich nicht. Ulrich schlägt vor: „Man kann die guten Schüler auch zu Hause zu weiteren Themen recherchieren lassen – ob übers Internet oder gar in richtigen Büchern.“
Von den schlechten Schülern, und hier beginnt die Gegenrede, spricht Ulrich gar nicht erst. Aber um die schlechten Schüler geht es vor allem. Fast ein Drittel der Jugendlichen, so zeigt uns ICILS, verfügt über so geringe Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien, dass sie kaum in der Lage sein werden, spätere Ansprüche im Beruf zu erfüllen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – sie sind faktisch als Analphabeten im Internet unterwegs. Und hier liegt das Missverständnis, das dem Pädagogen (und anderen, die ICILS nicht wirklich besorgniserregend finden) unterläuft: Es geht nicht darum, aus einem schlichten Modernismus heraus den Unterricht an den Bildschirm zu verlegen und den Lehrer durch ein Lernprogramm zu ersetzen. Es geht auch nicht darum, den Unterricht mit flotten Bildschirm-Präsentationen lustiger zu machen. Keiner stellt ernsthaft diese Forderungen. Programme, die individualisiertes Lernen ermöglichen, können immer nur eine Ergänzung sein, aber – immerhin – eine vertiefende und deshalb sinnvolle. Wichtiger aber: Medienkompetenz ist eine grundlegende Bildungsvoraussetzung, ohne die sich heutzutage eigenständig kein Wissen und Können aneignen lässt.
Dabei ist Medienkompetenz – zunächst – keine Frage des Trägermediums. Auch mit Büchern lässt sich kritisch umgehen. Das Internet jedoch hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sich mit Papier nicht ergründen lassen. Beispiel „Wikipedia“: Die Schülerrecherche zu Hause erschöpft sich meist in der Nutzung der Online-Enzyklopädie, wenn nicht sogar schon im Kopieren der Google-Treffer-Liste. Tatsächlich mögen manche Lehrer noch den Hinweis mitgeben, dass aus Wikipedia entnommene Informationen gegengecheckt werden müssen. Aber da fangen die praktischen Probleme an: Wo denn? Wo bekommt ein Schüler verifizierte Informationen, mit denen er einen Wikipedia-Beitrag prüfen kann? Soll er allen Ernstes zur nächsten Stadtbücherei radeln, um mit dem Ausdruck des Wikipedia-Artikels in der Hand in einer gedruckten Bockhaus-Ausgabe von 1980 zu stöbern? Weiß der Schüler überhaupt, warum die Informationen aus Wikipedia kritisch hinterfragt werden müssen (nämlich weil darin im Prinzip jeder herumschreiben kann). Und: Weiß es sein Lehrer?
Das Internet hat die Veröffentlichung von Informationen ungemein vereinfacht und demokratisiert. War früher ein großer Apparat dafür notwendig, Texte oder Bilder in die Fläche zu bringen – ob eine Druckerei, ein Fernsehstudio, eine Redaktion sowie ein notwendiger Vertrieb –, so bedarf es heute nicht einmal mehr einer Homepage, um sich mitzuteilen. Die sozialen Medien tun’s ja auch. Konnte man früher also zurecht davon ausgehen, dass eine veröffentlichte Information von wem auch immer geprüft worden ist und deshalb zumindest grober Unsinn ausgesiebt wurde, so gelangt heute alles und jedes ungefiltert ins Netz. Manches wichtige und richtige. Sehr viel Quatsch. Und in dieser Informations- und Desinformationsflut sollen sich junge Menschen ohne Anleitung durch die Schule zurechtfinden? ICILS zeigt: Das funktioniert nicht.
Die wohl wichtigste Erkenntnis aus der Studie ist die, dass auch „digital natives“ – anders als bislang angenommen – sich Medienkompetenz nicht selbstständig aneignen. Dazu bedarf es der Anleitung. Durch Lehrer aus Fleisch und Blut. Aber an Bildschirmen. Autofahren lässt sich nicht allein aus Büchern lernen, und das Navigieren im Netz eben auch nicht. Das volldigitale Klassenzimmer wäre ein Albtraum? Falsch: Sich ohne Orientierung in einer digitalen Welt bewegen zu müssen, das ist ein Albtraum. Hoffentlich wachen wir bald daraus auf. (Ursprünglich veröffentlicht am 26.März, aktualisiert am 15. September)