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Streit um „Schreiben wie Hören“: Pure Ideologie ist im Spiel

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Ein Kommentar von NINA BRAUN.

Die Bildungsjournalistin Nina Braun. Foto: www.bildungsjournalisten.de

Über Methoden lässt sich streiten, natürlich. Wenn die Auseinandersetzung aber mehr sein soll als ein Krach um des Kaisers Bart, dann sollten schon Fakten die Grundlage sein – und nicht Glaubenssätze. Wie bei der Diskussion um die Methode Reichen, die berühmt-berüchtigte Art also, Schüler Wörter so schreiben zu lassen, wie sie sie hören. Kritiker sehen einen Zusammenhang zwischen vermeintlich mangelnden Lese- und Rechtschreibfähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen und dem Lernmodell. Sie fordert nun Landesregierungen auf, nach dem Hamburger Vorbild die Lernmethode an den Grundschulen auszusetzen. Dabei ist einiges bemerkenswert:

Erstens, es ist durchaus umstritten, ob sich die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten von Schülern in den letzten Jahrzehnten verschlechtert haben. Klar scheint zu sein, dass Schüler heute mehr orthografische Fehler machen. Allerdings auf der Basis eines vergrößerten Wortschatzes. Dazu kommt, dass sich die Schülerschaft in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert hat – rund ein Drittel stammt heute aus Einwandererfamilien, was vor 30, 40 Jahren nicht so war. Fazit: Die Sprachbildung scheint, im Widerspruch zur vorgebrachten Klage, sogar ganz gut zu funktionieren. Was nicht heißt, dass es dabei keine Verbesserungen geben könnte – etwa durch speziell ausgebildetes Personal für eine sprachlich besonders förderbedürftige Schülerklientel. Aber das ist ein ganz anderes Thema.

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Zweitens, die Lehrer vor Ort sind die Fachleute fürs Lehren, nicht Politiker. Und auch nicht Eltern. Eltern ticken schulpolitisch tendenziell konservativ; alles, was sie selbst in ihrer Schulzeit erlebt haben, war in der Rückschau gut und richtig. Neuerungen sind ihnen erstmal suspekt. Das kann aber nicht bedeuten, dass Schule sich nicht entwickeln darf. Sie muss es tun: Ein Lehrer verfügt heute über ein ganzes Repertoire an pädagogischen Instrumenten, die er je nach Bedarf zielgerichtet einsetzen kann. “Lesen durch Schreiben” ist eines davon, beileibe nicht das einzige. Das Eltern begreiflich zu machen, ist vor allem eine Frage einer zu verbessernden Kommunikation.

Aber was ist mit der Kritik an der Methode von Lehrerseite? Ein interessantes Phänomen: Die Kritik kommt vor allem aus den weiterführenden Schulen – und richtet sich an die Grundschulen. Mit diesem Schwarzer-Peter-Spiel stehlen sich die weiterführenden Schulen ein Stück weit aus der Verantwortung. Rechtschreibung ist (wie Lesen und Schreiben überhaupt) keine Angelegenheit der Primarstufe allein.

Der Verdacht besteht, dass bei manchen der Kritiker pure Ideologie im Spiel ist – und die Denke so läuft: Schreiben wie hören = Schüler dürfen alles machen = Kuschelpädagogik = antiautoritäre Erziehung = 1968 = sofort verbieten. Die Ironie an der Geschichte ist, dass hier etwas verboten werden soll, was es praktisch gar nicht (mehr) gibt. Kaum eine Grundschule praktiziert heute noch die Methode Reichen in Reinform. Dass Lehrer aber die Freiheit haben sollen, in der Abwägung zwischen Lernmotivation und orthografischer Korrektheit sich mal für den Anschub entscheiden zu dürfen, auch wenn ein paar Schreibfehler zu kritisieren wären, muss doch nicht ernsthaft von einer Landesregierung verboten werden, oder? (Erstmals veröffentlicht am 9.5.2014, aktualisiert am 22.9.2015)

Zum Beitrag: Streit ums Schreibenlernen nach Gehör kocht wieder hoch – Online-Petition fordert Verbot der Methode

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