DÜSSELDORF. Selten hat ein Beitrag auf News4teachers eine so rege Diskussion ausgelöst wie der Kommentar: „Was wir jetzt brauchen: Eine Bildungs-Offensive gegen die Hass-Kultur!“ von n4t-Herausgeber Andrej Priboschek. Mehr als 100 Leserzuschriften sind dazu bereits eingegangen. Wie könnte eine solche Bildungs-Offensive denn aussehen, fragen Leser. News4teachers-Autorin Anna Hückelheim hat sich in Schulen umgeschaut, die ihren Schülern bereits heute die Bedeutung und Funktionsweise der Demokratie mit besonderen Initiativen näherbringen – durch neue Formen der Mitbestimmung. Modelle, die unserer Meinung nach Schule machen sollten. In Zeiten, in denen Menschen angesichts der Aufnahme von Flüchtlingen unsere Demokratie zunehmend infrage stellen.
Demokratie-Erziehung – ein ziemlich sperriger Begriff für ein doch sehr präzises Ziel: Schüler sollen wissen, was es heißt, Teil einer demokratischen Gesellschaft zu sein. Sie sollen beispielsweise lernen, Verantwortung zu übernehmen und ihre Meinung zu äußern, sowie ihre Rechte und die demokratischen Prozesse kennen lernen. Die deutlich schwierigere Frage ist: Wie schaffen Lehrer das? – Die Antwort in einigen Fällen: Schüler eigene Erfahrungen sammeln lassen.
Freitagmittag, sechste Stunde an der Schillerschule im nordrhein-westfälischen Herne: Zwölf Grundschüler sitzen zusammen mit ihrer Lehrerin im Kreis, das bestimmende Thema der Runde ist schon wieder die Schaukel. Nach den Ferien gab es erneut Unstimmigkeiten, wer sie wann benutzen darf. Was zunächst wie ein Einzelfall anmutet, entpuppt sich schnell als größeres Problem. Viele der Kinder berichten von ähnlichen Fällen – damit ist es ihre Aufgabe, die des Schülerparlaments, eine Lösung zu finden.
Das Gremium ist seit dem Schuljahr 2008/2009 „im Rahmen der demokratischen Erziehung“, wie es im Konzept des Parlaments heißt, fest an der Herner Grundschule verankert. Zu den Mitgliedern gehören jeweils zwei gewählte Schülervertreter aller Klassen, wobei die Erstklässler ihre Parlamentsarbeit erst im zweiten Halbjahr nach der Eingewöhnungszeit beginnen. Unterstützung erhalten sie von einer Verbindungslehrerin. Gemeinsam treffen sie sich jeden Freitag in der sechsten Stunde. Ziel des Schülerparlaments ist es laut Konzept, die Kinder aktiv in die Gestaltung schulischer Themen einzubeziehen. Dazu gehört nicht nur, dass Probleme angesprochen, sondern nach Möglichkeit auch gelöst werden.
Im Fall der Schaukel beantragt Sophia aus der vierten Klasse, die Schaukelregeln für die Zukunft an einem der Pfosten aufzuhängen, damit die Schüler im Streitfall nachschauen können, wer im Recht ist. Doch nicht alle Parlamentarier sind überzeugt, dass die Idee so einfach umzusetzen ist. Ebrar und Leander befürchten, dass der Zettel abgerissen werden könnte. Eine kleine Diskussion entsteht. Doch als sie sich beginnt, im Kreis zu drehen, versucht Verbindungslehrerin Marina Corzillius, zu vermitteln: „Ich werde abklären, ob wir sie anpinnen dürfen. Bis dahin können wir sie ja noch einmal ins Protokoll der Sitzung schreiben, um alle Schüler an die Regeln zu erinnern.“ Die Gruppe ist mit dem Vorschlag einverstanden und Marina Corzillius wendet sich an Simen. Der Viertklässler leitet heute zusammen mit Ebrar die Sitzung. Als Vorsitzende moderieren sie die Inhalte, koordinieren die Wortmeldungen und entscheiden, ob ein Ergebnis ins Protokoll aufgenommen werden soll und der Antrag damit erledigt ist. „Machen wir so“, beschließt Simen und es geht weiter.
In die Sitzungen dürfen alle beteiligten Parlamentskinder Themen einbringen. Dabei gibt es nur eine Vorgabe: Sie müssen die gesamte Schulgemeinde betreffen, wie beispielsweise die Kritik an den zu großen Essensportionen in der Nachmittagsbetreuung. „Die Schüler fanden es nicht gut, dass so viel weggeworfen wurde, vor allem, wenn sie etwas nicht mochten“, erinnert sich Marina Corzillius an den Fall aus dem Jahr 2010. Mit einem Vertreter aus dem Team des Offenen Ganztags besprachen sie die Situation. Gemeinsam einigten sie sich schließlich darauf, dass die Kinder zwar alles probieren müssen, aber kleinere Portionen bekommen. „Es entwickelt sich wirklich viel hier durch das Schülerparlament.“ Das merken auch die Schüler: „Ich finde es gut, dass wir hier alle Themen aus der Schule ansprechen können und auch für die großen Zeit haben“, sagt Simen. Zweitklässler Jarik gefällt an der Parlamentsarbeit besonders, „dass wir mitbekommen, was in den anderen Klassen passiert“.
Ähnliche Erfahrungen wie die Schillerschule Herne machen auch andere Einrichtungen mit Projekten zur Mitbestimmung von Schülern, darunter auch die Laborschule Bielefeld, die staatliche Versuchsschule des Landes Nordrhein-Westfalen. „Grundlage unserer Arbeit ist die Idee der Schule als Gesellschaft im Kleinen“, erklärt Lehrerin Nicole Freke von der Wissenschaftlichen Einrichtung Laborschule. Neben Mitbestimmungsmöglichkeiten im kleineren Rahmen während des Unterrichts und der Arbeit in der Schülervertretung ab der sechsten Klasse gibt es für die Schüler jeden Montagmorgen eine Betreuungsstunde. In der sollen sie innerhalb ihrer Lerngruppe erste Demokratie-Erfahrungen sammeln. „Während dieser Stunde können die Kinder Themen auf den Tisch bringen, die sie beschäftigen.“ Im Mittelpunkt stünden zum Beispiel immer mal wieder Konflikte und die Frage, wie sie geschlichtet werden können. „Die Kinder nehmen das sehr ernst und finden auch sehr selbstständig zu Lösungen.“ Darüber hinaus haben sie die Möglichkeit, solche Angelegenheiten auch in den Versammlungen zu besprechen, die zu Beginn jeder Unterrichtseinheit stattfinden.
Die Schüler der Stufe 2 – Lerngruppen aus Dritt-, Viert- und Fünftklässler – können außerdem über ihre gewählten Vertreter in ihrem Stufenparlament übergeordnete Angelegenheiten selber regeln. „Vor längerer Zeit haben sich die Kinder in einer Parlamentssitzung etwa dafür eingesetzt, einen Veggie-Day in der Mensa einzuführen.“ Mithilfe der Vertrauenslehrer gelangte ihr Vorschlag in die Lehrerkonferenz und von da aus in die Schulkonferenz, wo die Idee auf Zustimmung stieß und angenommen wurde. Schon seit eineinhalb Jahren gebe es nun einen fleischlosen Tag in der Mensa der Laborschule. „Von den Betreuungslehrern (Klassenlehrern, Anm. d. Red.) weiß ich, dass die Kinder das total super finden und ein Stück weit auch stolz sind, dass sie ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche durchsetzen können.“
Aufgrund der erfolgreichen Parlamentsarbeit in der Stufe 2 entwickelt die Laborschule im Rahmen eines Forschungsprojekts auch für die Stufe 1 ein übergeordnetes Gremium. Dadurch sollen auch die Vorschüler sowie Erst- und Zweitklässler die Chance erhalten, eigenständig ihre Anliegen zu besprechen. „Bislang haben sich vor allem die Erwachsenen darum gekümmert. Irgendwann ist uns dann aber aufgefallen, dass die Kinder viele Dinge eigentlich besser selber klären könnten.“ Zu diesem Zweck hat das Kollegium der Laborschule gemeinsam mit der Wissenschaftlichen Einrichtung und dem Kieler Institut für Partizipation und Bildung eine Verfassung ausgearbeitet, die den jüngeren Schülern transparent machen soll, in welchen Bereichen sie mitbestimmen dürfen. „Es ist wichtig, dass sie wissen, was das Gremium ihnen bringt.“ Deshalb haben Freke und ihre Kollegen die Idee, nachträglich auch eine Verfassung für das Stufe 2-Parlament konzipieren.
Ebenfalls an mehreren Stellen können die Schüler der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck demokratische Prozesse unmittelbar erleben. Seit dem Schuljahr 2013/2014 existiert neben der Schülervertretung (SV) ein Ausschuss auf Jahrgangsstufenebene. „Wir wollten die Mitbestimmungsmöglichkeiten dezentraler organisieren, quasi eine kommunale Ebene schaffen, sodass mehr Schüler direkt an Prozessen beteiligt sein können, die sie unbedingt betreffen“, sagt Schulleiter Volker Franken. Der Auslöser für diese Entscheidung sei das Ausmaß der SV gewesen. Bei 1200 Schülern seien sehr viele an der SV-Arbeit beteiligt. Dadurch würden vor allem die Stimmen der jüngeren und noch schüchternen Schüler untergehen. In den Jahrgangsstufenparlamenten hätten die jeweiligen Klassensprecher sowie ihre Stellvertreter eine zusätzliche Möglichkeit, die Ansichten ihrer Mitschüler zu vertreten. Rat und Hilfe bietet dabei der Teamsprecher der jeweiligen Jahrgangstufe, ein Lehrer, der die Kinder beziehungsweise Jugendlichen bei ihren Vorhaben unterstützt.
Wie an der Schillerschule in Herne leitet ein Schüler die Parlamentssitzung, ein anderer ist für das Protokoll verantwortlich. Alle Beteiligten können zu Beginn ihre Anträge einbringen. Jedes Jahrgangsstufenparlament berät unter anderem über seinen Jahrgangsetat, den die Schule aus ihrem Haushalt zur Verfügung stellt und der jeweils 200 Euro beträgt. Wofür sie ihn einsetzen wollen, dürfen die Schüler selber entscheiden. Ideen gibt es reichlich: „Im letzten Schuljahr wollten einige Sechstklässler mit dem Geld Stühle für die Klassengärten anschaffen, andere lieber Pflanzen und wieder andere Weihnachtsschmuck oder einen zweiten Wasserständer für die Mensa“, erinnert sich Kerstin Rustemeier, Teamsprecherin der Jahrgangsstufe 7. Sind die Unstimmigkeiten zu groß, gehen die Vorschläge, für die sich die meisten Parlamentarier begeistern können, bis zur nächsten Sitzung zurück in die Klassen zur erneuten Beratung. „Das ist ein Prozess, der eher ein Kalenderjahr dauert als ein Schuljahr“, so Schulleiter Franken. Daher stehe die Entscheidung über die Etatnutzung der vergangenen Jahrgangsstufe 6 auch noch aus. „Wir versuchen, Ergebnisse zu erzielen, die möglichst einstimmig sind, aber besonders in Bezug auf den Etat können wir meistens nicht allen gerecht werden“, sagt Corinna Buschkühl, Teamsprecherin der Jahrgangsstufe 9. „Aber auch das gehört eben zum Prozess des demokratischen Lernens“, betont Franken. Über das Parlament können die Schüler auf Jahrgangsebene zudem neue Regeln aufstellen oder die bestehenden überarbeiten. Es habe schon Abstimmungen gegeben, wer die Klassengärten in den Pausen benutzen darf und ob Schüler dort auch Fußball spielen dürfen.
Ob in Herne, Bielefeld oder Gelsenkirchen – jede Schule hat ihr eigenes Konzept und doch verfolgen sie alle das gleiche Ziel: Schülern ein Verständnis von Demokratie zu vermitteln. Darüber hinaus teilen die Ansätze vor allem eine Gemeinsamkeit: Sie bedeuten Mehrarbeit für die Lehrer, die von den verantwortlichen Lehrkräften jedoch nicht als solche empfunden wird. „Natürlich ist das eine zeitliche Investition, die habe ich als Lehrerin aber an vielen Stellen und vor allem lohnt es sich“, sagt etwa Corinna Buschkühl. „Es macht Sinn, vor allem für die jüngeren Schüler, Strukturen außerhalb der SV zu schaffen, in der sie doch eher untergehen, weil sie sich nicht trauen, ihre Meinung zu sagen.“ Daher sei es gut, ihnen über das Jahrgangsstufenparlament einen Raum zu bieten, indem sie ihre Bedürfnisse formulieren könnten.
An der Laborschule Bielefeld erhalten Lehrkräfte für den zusätzlichen Einsatz nach Möglichkeit Entlastungsstunden oder zum Beispiel eine Pausenaufsicht weniger, so Nicole Freke. Doch unabhängig davon vertritt auch sie die Meinung, dass sich die Mehrarbeit lohnt: „Es macht das Leben insgesamt leichter, die Kinder mitbestimmen zu lassen. Sie fühlen sich ernst genommen, sind zufriedener, stehen auch für die Schule ein und kommen dann auch gerne hierhin.“ Die Verantwortung, die die Schüler für ihre Schule übernähmen, fördere ihr Engagement im Schulalltag. „Ihr Einsatz zeigt auch, dass Kinder und Jugendliche nicht von sich aus politisch desinteressiert sind.“ Dieser Auffassung ist auch Verbindungslehrerin Marina Corzillius von der Herner Schillerschule: „Das Interesse an Politik und Mitbestimmung ist in der Grundschule noch absolut da.“ Das werde auch dadurch deutlich, dass häufig beide Klassenvertreter zur Sitzung kämen, obwohl nur einer teilnehmen müsste. Ähnlich ihrer Kollegin aus Bielefeld habe sie die Erfahrung gemacht, dass es die Arbeit erleichtere, die Kinder bei der Gestaltung der Schule miteinzubeziehen. „Es gibt vieles, das die Schüler untereinander regeln können, wie das Schaukel-Problem, ohne dass das Kollegium aktiv werden muss. Wir haben alle was davon.“ Dieser Ansicht sind auch die Schülerparlamentarier. Ihnen ist es wichtig, dass sie Anliegen der Schüler mithilfe des Parlaments ansprechen und klären können. „Wir können gucken, dass es hier wirklich gut bleibt an der Schule“, sagt etwa Zweitklässler Lucas. Viertklässlerin Sophia ist seit der ersten Klasse Mitglied im Parlament und überzeugt: „Es bringt was, was wir machen. Wir haben schon einige Probleme gelöst.“ Anna Hückelheim
Der Beitrag ist vor einem Jahr in der Lehrerzeitschrift Forum Schule erschienen.
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