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Flüchtlingskinder: Lehrer an der Grenze des guten Willens – Hilferufe nehmen zu

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STUTTGART. Noch immer kommen fast täglich Flüchtlingsfamilien in großer Zahl nach Deutschland. Der Arbeitsmarkt für Lehrkräfte etwa mit der Qualifikation Deutsch als Fremdsprache ist leergefegt. Viele „konventionelle“ Lehrer zeigen deshalb derzeit ein herausragendes Engagement bei der schulischen Integration der jungen Menschen. Doch viele sehen die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht und fühlen sich alleingelassen. Bildungsverbände im Südwesten beispielsweise fordern mehr und flexiblere Unterstützung.

Die Schulen stoßen bei der Integration von Flüchtlingskindern zunehmend an ihre Belastungsgrenze – auch in Baden-Württemberg. «Die Kinder sind traumatisiert, manche können noch nicht einmal schreiben», sagte Michael Gomolzig, Landessprecher des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). «Man sieht schon, dass sich die Regierung bemüht, aber wir werden genauso überrollt wie Polizisten und Lehrer auch.» Die Lehrer seien zwar hilfsbereit, fühlten sich aber alleingelassen. «Es gibt auch welche, die sagen: “Ich kann nicht mehr jetzt!”».

Flüchtlingskinder sind lernbegierig. Foto: Russell Watkins/Department for International Development / flickr (CC BY-SA 2.0)

Das Land rechnet 2015 insgesamt mit rund 30 000 Flüchtlingskindern an den Schulen im Südwesten. In den Vorbereitungsklassen an den Grund- und Hauptschulen und den Klassen an Berufsschulen werden die jungen Flüchtlinge auf den regulären Schulbesuch oder eine Ausbildung vorbereitet. Zu Beginn des Schuljahres gab es in Baden-Württemberg 1500 Vorbereitungsklassen und 300 Klassen an Berufsschulen.

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Viele Lehrer seien für den Umgang mit den traumatisierten Kindern aber nicht ausgebildet, sagte Matthias Schneider, Sprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). «Das sind Kinder, die noch vor zwei, drei Monaten teilweise in Kriegsgebieten waren oder schlimme Erfahrungen auf Flucht machen mussten», stellte er fest.

Zwar seien Flüchtlingskinder sehr lernbegierig. «Gleichzeitig sind Kinder und Jugendliche durch den Alltag auf Flucht nicht mehr gewohnt, einem regelmäßigen Schulalltag nachzukommen», sagte er. Lehrer seien deshalb häufig überfordert. Schneider verlangt mehr Unterstützung durch die Schulsozialarbeit und eine engere Kooperation der Schulen mit Jugendhilfe und Beratungsstellen.

Auch das Kultusministerium erkennt die Herausforderungen in den Klassenzimmern. «Die Lehrer müssen mit allen Methoden arbeiten, zum Teil mit Zeichensprache und Händen und Füßen», sagte ein Sprecher. Lehrer seien zwar nicht für den Umgang mit traumatisierten Schülern ausgebildet. «Was Schule aber leisten kann, ist Alltagsstrukturierung, ein positives Klima zu gestalten und sensibel mit Erfahrungen der Flucht umzugehen», sagte er.

«Jeder rechnet mit dem guten Willen der Lehrer – die werden das schon irgendwie schaukeln -, aber sie haben noch die Inklusion, den neuen Bildungsplan. Da sind gerade viele Baustellen an der Schule», kritisierte der Bildungsexperte Gomolzig. Es geht nicht darum, einfach Deutsch zu vermitteln – sondern Deutsch als Zweitsprache. «Deutschlehrer unterrichten deutsche Kinder in der deutschen Sprache. Bei Flüchtlingen brauche ich ein ganz anderes pädagogisches Konzept», meinte er.

Die Zusatzqualifikation ist nach Angaben des Kultusministeriums aufgrund mangelnder Nachfrage in den vergangenen Jahren an den Hochschulen zurückgefahren worden. «Diese Kompetenz können wir nicht so schnell wieder ausbauen wie wünschenswert», sagte ein Sprecher. Studienanfänger stünden dem Arbeitsmarkt erst nach sieben oder acht Jahren zur Verfügung.

Außerdem: Unabhängig von der Qualifikation gibt es zu wenige Lehrer im Land. «Es ist eine erhebliche Herausforderung, geeignetes pädagogisches Personal zu finden», sagte ein Sprecher des Kultusministeriums. Zwar sei die Versorgung der Flüchtlinge an den allgemeinbildenden Schulen derzeit gewährleistet. Problematisch sei die Lage aber an den Berufsschulen. «Die 19- und 20-Jährigen, die noch berufsschulische und schulische Bildung benötigen, sind nicht alle zeitnah versorgt worden», räumte er ein. Dort sollen aber weitere Klassen eingerichtet werden.

Das Land wirbt bei Pensionären um Hilfe, stellte Hunderte Lehrer ein, der Nachtragshaushalt sieht viele weitere Stellen vor. Aber der Arbeitsmarkt ist gespannt. «Wir brauchen weitere Flexibilisierung – die befristete Beschäftigung von Pädagogen, die die Laufbahnvoraussetzungen nicht erfüllen», sagte ein Sprecher. Das Land will verstärkt Quereinsteiger an die Schulen holen. «Da kommen zum Beispiel auch studierte Germanisten zum Zuge.»

«Es war mehr als absehbar, dass angesichts der Vielzahl an teilweise schwer traumatisierten schulpflichtigen Flüchtlingen die Lehrerinnen und Lehrer rasch an Ihre Belastungsgrenzen stoßen», kritisierte der bildungspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Georg Wacker. Lehrer alleine reichten nicht aus, er fordert ein Unterstützungssystem mit Schulpsychologen und Traumatherapeuten sowie ein ganzheitliches Förderkonzept für Flüchtlinge. «Der Kultusminister hat es bislang verpasst, die richtigen Weichen zu stellen», sagte Wacker.

«Man holt die letzte Reserve, weil man sieht, es brennt an allen Ecken und Enden», sagte Michael Gomolzig. Neben dem Personal seien aber auch die Schulräume begrenzt. «Entweder wir fahren den Standard runter und sagen, wir kürzen Pflichtunterricht für die Regelklassen», sagte Gomolzig. Das könnte aber zu Unmut gegenüber Flüchtlingen führen. «Oder wir stellen Lehrer ein, die wir nicht haben.»

Junge Flüchtlinge in Baden-Württemberg sind spätestens sechs Monate nach ihrer Einreise nach Deutschland schulpflichtig. Sie können aber schon ab dem ersten Tag zur Schule gehen, wenn sie das möchten. Die Kinder und Jugendlichen kommen zunächst in eine Vorbereitungsklasse. Dort sollen sie mit anderen Kindern mit Migrationshintergrund möglichst schnell Deutsch lernen, um in die regulären Klassen integriert werden zu können. Auch wenn sie in eine normale Klasse wechseln, werden die Flüchtlinge meist noch zusätzlich betreut – etwa über individuelle Deutschkurse.

Seit dem Schuljahr 2014/2015 hat Baden-Württemberg zusätzlich rund 560 Stellen für Vorbereitungsklassen und Klassen an Berufsschulen geschaffen. Diese Stellen sind besetzt. Der Nachtragshaushalt sieht weitere 600 Stellen für Lehrkräfte in diesen Klassen vor. (Nico Pointner, dpa)

• Fragen und Antworten zur Integration von jungen Flüchtlingen in baden-württembergischen Schulen (Kultusministerium Baden-Württemberg)
• Brief des Ministeriums an pensionierte Lehrer

• Kommentar von Andrej Priboschek: Bildung für Flüchtlinge – so geht es nicht! Die Kleinstaaterei stößt an ihre Grenze

 

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