Ein Kommentar von ANDREJ PRIBOSCHEK.
Das G8 kann einem schon fast leid tun. Immer mehr Parteien und Verbände erklären sich zu Gegnern des Modells, das – daran sei hier erinnert – bei der Einführung vor einigen Jahren einhellig begrüßt und beschlossen wurde. Nun ist es nichts Ehrenrühriges, die eigene Position im Licht neuer Erkenntnisse zu überdenken und auch zu ändern. Was allerdings verblüfft, ist die Tatsache, dass offenbar kaum jemand mehr weiß, warum G8 überhaupt eingeführt wurde. Mehr noch: Das “Turbo-Abitur” ist für viele offenbar zum Synonym für alles geworden, was aus ihrer Sicht an den Schulen falsch läuft. Anders lässt sich der Furor etlicher G8-Gegner kaum erklären.
Denn es gab – und gibt – ja gute Gründe, die für die Schulzeitverkürzung sprechen. Ausgangspunkte für die Reform seinerzeit waren zwei Beobachtungen: Erstens, nirgends in Europa waren die akademischen Berufseinsteiger so alt wie in Deutschland, nämlich fast 30 Jahre alt im Schnitt. Ein später Berufseinstieg hat auch eine soziale Dimension: Wer kann es sich (selbst ohne Studiengebühren) leisten, so lange ohne geregeltes Einkommen zu leben? Und zweitens, die Erfahrungen mit dem Abitur nach zwölf Schuljahren sind sowohl in Deutschland (zum Beispiel Sachsen, Dauersieger im IQB-Bundesländervergleich) und im übrigen Europa ja nicht schlecht.
So fragte der damalige Bundespräsident Roman Herzog in seiner berühmten Berliner “Ruck”-Rede am 26. April 1997: “Wie kommt es, dass die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schule mit 17 und die Hochschule mit 24 abschließen zu lassen?”
Zur Einordnung: Seinerzeit galt Deutschland aufgrund von hoher Arbeitslosigkeit und niedriger Wachstumsraten als der “kranke Mann Europas”. Das hat sich deutlich geändert. Natürlich nicht wegen G8. Eher schon aufgrund einer Reform, die heute ähnlich unpopulär wie das “Turbo-Abitur” ist, die aber niemand zurücknehmen wird: die Agenda 2010 (im Volksmund auf das Kürzel “Hartz IV” gebracht). Eine stärker am gesellschaftlichen und ökonomischen Bedarf hin ausgerichtete Schule entspricht allerdings durchaus dem Geist des damaligen “Wir-krempeln-jetzt-mal-die-Ärmel-hoch”-Ansatzes. Und der könnte schneller wieder gefragt sein, als uns heute lieb ist.
Tatsächlich spricht viel für G8 – aber wenig für die reale Umsetzung der Reform. Der Kardinalfehler: Gekürzt wurde das Jahr in der Sekundarstufe I, obwohl (wie jeder weiß, der selbst früher einmal das Abitur gemacht hat) das 11. Schuljahr weitgehend verzichtbar war. So wurde die Hauptbelastung auf die Kleinen gebracht; und es war vor allem ein ideologischer Grund, weshalb so verfahren wurde: Konservative wollten das Gymnasium vom übrigen Schulsystem abkoppeln, damit dieses von jenem nicht irgendwann geschluckt werden kann. Die überzogene Angst vor der Einheitsschule hat also das G8 vermurkst. Dazu kamen handwerkliche Mängel, die vor allem in der Scheu begründet liegen, Inhalte auch mal auszusortieren. Das Ergebnis ist nicht schön, aber so schlecht auch wieder nicht, alles ruckzuck rückgängig zu machen.
Denn eins ist mittlerweile gewiss: Bildungsreformen benötigen Sorgfalt und damit Zeit bei der Umsetzung – und eine breite gesellschaftliche Debatte, die ein Für und Wider erkennen lässt. Sonst kann sich in ein paar Jahren keiner mehr daran erinnern, warum zum Teufel dieses G9 plötzlich wieder eingeführt wurde.
