BERLIN. Schwer führbare Klassen mit immer mehr „Problemfällen“, schleichender Verlust des sozialen Zusammenhalts, desorientierte Jugendliche, die sich immer mehr unter Druck fühlen: Schule und Gesellschaft in Deutschland stehen vor großen Herausforderungen, zu denen weitere Aufgaben wie die Inklusion oder die Flüchtlingsintegration hinzukommen. Sicher sind nicht alle dadurch zu lösen, das Kinder mehr Freiraum zu freiem „Draußenspielen“ bekommen, doch gerade die integrativen Potenziale des Spielens sind in Fachkreisen vielfach belegt. Dem stehen allerdings viele Hindernisse entgegen.
Früher war alles besser: Nach den Hausaufgaben gehen die Kinder raus und spielen mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft, mit Ball oder am Bach, auf der Straße, auf dem Spielplatz oder in Wald und Feld. Gemeinsam einigen sie sich auf ein Spiel und toben sich aus oder lassen ihrer Kreativität freien Lauf. Dabei haben die Großen nebenbei ein Auge auf die Kleinen. Am Abend geht es zum Abendessen wieder nach Hause. Am nächsten Tag treffen sich die Kinder wieder und das Spiel geht von vorne los.
In der Schule treffen die Lehrer auf gewachsene soziale Gemeinschaften mit Schülerinnen und Schülern, die ein angemessenes Sozialverhalten in der Gruppe in ihrer Freizeit täglich aufs Neue eingeübt haben. Gewissermaßen nebenbei wachsen Kinder und Jugendliche dabei spielerisch in die Erwachsenengesellschaft mit ihren sozialen und kulturellen Anforderungen hinein.
Der stark verklärte Blick auf die Vergangenheit klingt fast zu schön um wahr zu sein und ist es aus Sicht der Sozialforschung auch. Mit der kindlichen Wirklichkeit hat er allerdings heute noch weniger zu tun als früher. Die Vorstellung von den termingestressten, ab der ersten Klasse dem Abitur zustrebenden Einzelkindern, die von ihren Eltern mit dem Auto von einem Förderangebot zum nächsten chauffiert werden, gibt zwar ebenfalls nur ein verzerrtes Bild der Realität wieder: Dennoch verbringen Kinder heute weniger Zeit im freien Spiel als ihrer Altersgenossen früherer Generationen.
Die soziale Disparität stellt Lehrer bei der Bildung von „Klassengemeinschaften“ heute vor größere Herausforderungen als etwa die Kollegen in den fünfziger Jahren. Das Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt stellt sich für viel Jungendliche als unüberschaubarer Prozess dar.
Das Leben in der deutschen Gesellschaft ist komplexer geworden. Auch wenn es aufgrund des sozialen Wandels müßig erscheinen mag, das „Draußenspielen“ unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu betrachten, weisen Experten immer wieder auf die integrativen Potenziale des Spielens hin. Anlässlich des gestrigen Weltspieltags mahnte etwa das Deutsche Kinderhilfswerk an, die Möglichkeiten des Spiels bei der Integration von Flüchtlingskindern mehr als bisher zu nutzen.
Gerade für Flüchtlingskinder gelte, so Bundesgeschäftsführer Holger Hofmann: „Gemeinsames Spielen, Kommunizieren und Kooperieren braucht wenig Worte und hilft gleichzeitig, sich in eine andere Kultur einzuleben, Freunde zu finden und die neue Sprache “spielend” zu lernen. Spielen verbindet alle Kulturen auf der Welt, denn draußen gespielt wird überall. Das gemeinsame Spiel braucht nicht viele Worte, es reichen Sand und Wasser, mit denen Kinder zusammen eine Miniaturburg bauen. Es reicht auch ein Ball, um Vorurteile zu überwinden und ein Bauspielplatz hat die gleiche Anziehungskraft für arme und reiche Kinder.“
Zum Weltspieltag hat das Deutsche Kinderhilfswerk eine Umfrage unter Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Knapp zwei Drittel (64 Prozent) würden demnach gern häufiger draußen gemeinsam mit anderen Kindern spielen.
Generelle Hinderungsgründe für das Draußenspielen gibt es viele: Rund 28 Prozent der Kinder und Jugendlichen sehen den Straßenverkehr mit zu schnellen Autos, großen Kreuzungen und fehlenden Übergängen sowie parkende Autos als Hinderungsgrund. Knapp 27 Prozent spielen nicht häufiger draußen, da sie von Erwachsenen ständig angemeckert werden oder vor ihnen Angst haben, 11 Prozent sehen andere Kinder, die ärgern, als Hinderungsgrund. Rund 24 Prozent haben keine Spielmöglichkeiten in der Nähe oder auf Spielplätzen keine spannenden oder nur defekte Spielgeräte. Fast jedes fünfte Kind (18 Prozent) gibt an, dass es keine anderen Kinder zum Draußenspielen vorfindet und rund 13 Prozentdürfen nicht ohne Begleitung von Erwachsenen draußen spielen.
Angesichts der Ergebnisse fordert das Kinderhilfswerk mehr Akzeptanz und bessere Rahmenbedingungen für spielende Kinder im Wohnumfeld. Hier wünschen sich Kinder laut einer Studie des Deutschen Kinderhilfswerkes vor allem sicherere Wege durch ihr Wohngebiet, eine Reduzierung der Gefahren durch den Autoverkehr und mehr Einfluss auf die Gestaltung der Spielflächen.
“Beim Spielen sind Kinder mit Eigenmotivation bei der Sache und brauchen keine Anleitung oder Regeln, um miteinander und voneinander zu lernen. Der öffentliche Raum, ob nun die Straße oder der Spielplatz, sollte daher für alle gleichermaßen nutzbar sein, unbeachtet des sozialen Hintergrunds, der Kultur, der Religion oder des Alters.“, sagt Holger Hofmann. Aber auch räumliche Grenzen stellten Hindernisse für das unbeschwerte Spielen draußen dar. „Kinder müssen oft stark befahrene Straßen überwinden, um einen qualitativen Spielort aufzusuchen oder haben kaum die Möglichkeit auf der Straße zu spielen, da diese von parkenden Autos blockiert ist. Das muss sich ändern” (zab, pm)
• zur Umfrage des Deutschen Kinderhilfswerks
• zum Bericht: Eine Stunde und 20 Minuten widmen Eltern im Schnitt ihren Kindern täglich – Mütter mehr, Väter weniger
• zum Bericht: Umfrage: Kinder kennen ihre Rechte kaum – Bildungsoffensive gefordert