WIESBADEN. Die Inklusion stellt die Schulen vor große Herausforderungen. Früher gab’s Förderschulen. Heute nicht mehr überall. Was aber tun mit einem Kind, das sich aufgrund einer Störung in einer Gruppe nicht zurechtfindet? Ein Fall aus dem hessischen Schwalbach zeigt die denkbar ungünstigste Lösung auf: Der Junge wird von der Schulpflicht entbunden. Offenbar kein Einzelfall.
hepingting / flickr (CC BY-SA 2.0)
Der zehnjährige Vito (Name geändert) ist hochbegabt, ein Überflieger, dem der Stoff zuzufliegen scheint. Er leidet allerdings auch unter einer Autismus-Spektrum-Störung. Die macht sich in seinem Fall so bemerkbar, dass Vito einem Bericht des „Höchster Kreisblatts – Frankfurter Neue Presse“ zufolge immer wieder in Prügeleien mit seinen Klassenkameraden verwickelt ist. Auch ein Schulbegleiter, der dem Jungen auf Empfehlung eines psychiatrischen Gutachtens hin bewilligt worden war, weil er sich aufgrund von Defiziten im sozial-emotionalen Bereich in Gruppensituationen schwer tut, konnte das offenbar nicht verhindern. Anfang März ordnete das Staatliche Schulamt dann laut Bericht die Aufhebung der Schulpflicht an, weil die Schule Vito als Gefahr für seine Mitschüler ansah. Es ist allerdings strittig, ob der Junge die anderen Kinder unvermittelt angriff – oder ob er zuvor das Opfer von Mobbing geworden war.
Beziehungsprobleme von Autisten
Autismus gilt dem Informationsdienst www.autismus-online.de zufolge als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“, die schwere Beziehungs- und Kommunikationsprobleme verursachen kann und bereits im frühen Kindesalter beginnt. Beeinträchtigt ist dabei das zentrale Nervensystem, insbesondere im Bereich der Wahrnehmungsverarbeitung. Sowohl kognitive als auch sprachliche, motorische, emotionale und interaktionale Funktionen sind betroffen – was sich in zahlreichen Verhaltensauffälligkeiten äußert, die im alltäglichen Umgang mit autistischen Menschen belastend sein können.
Tatsache aber ist nun: Vito, der dem schulärztlichen Gutachten zufolge eigentlich aufs Gymnasium gehört und offenbar auch schon über die Aufnahme-Zusage eines solchen in Mainz verfügt, wo er nach den Ferien begleitend auch eine Autismus-Therapie anfangen soll, darf derzeit gar nicht zur Schule gehen. Er hat seit Monaten „Ferien“ – auf unbestimmte Zeit. Das Schulamt beruft sich dabei auf ein psychologisches Gutachten, das zu anderen Ergebnissen als das schulärztliche gekommen war. Ein Widerspruch der Eltern gegen die Aufhebung der Schulpflicht sei gerichtlich zurückgewiesen worden, hieß es. Ihnen sei bei einem Gespräch ein „häuslicher Sonderunterricht“ vorschlagen worden, verlautete das Schulamt. Ein augenscheinlich unbefriedigendes Angebot: Nach Angaben der Mutter sollte dieser Unterricht sechs Stunden wöchentlich (!) umfassen.
Immer mehr Kinder “beurlaubt”
Ein Einzelfall? Offenbar nicht. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel werden zahlreiche Kinder mit Behinderungen einer Übersicht der Diakonie Rheinland-Westfalen zufolge nur noch verkürzt unterrichtet – oder über längere Zeit gar nicht mehr. Laut Umfrage (Stichtag 1. März) wurden von 1131 förderbedürftigen Kindern und Jugendlichen 180 reduziert beschult; 41 von ihnen nahmen für nur zwei bis fünf Stunden pro Woche am Unterricht teil. Zudem gab es 608 Beurlaubungen, die sich größtenteils (530 Fälle) auf mehr als vier Wochen erstreckten.
Auch in Menden im Sauerland gibt es aktuell den Fall eines Fünftklässlers, der seine Schule – eine Gesamtschule – aufgrund einer Autismus-Spektrum-Störung verlassen muss. Wegen einer permanent lauten und unruhigen Lernumgebung sei es bei dem Jungen zu einer ständigen Reizüberflutung gekommen, zu Stress, der ein sinnvolles Lernen kaum möglich gemacht habe. Die Schulleitung sah sich dem Bericht zufolge nicht in der Lage, ihm eine ruhigere Klasse oder verlässliche Rückzugsmöglichkeit anzubieten. Bevor der Junge vom Unterricht „freigestellt“ wurde, fanden die Eltern in der Nachbarstadt allerdings ein Gymnasium. Das verfüge über ein funktionierendes Inklusionskonzept und wolle sich des Kindes jetzt annehmen, heißt es. Agentur für Bildungsjournalimus
Um das Thema Inklusion künftigen Lehrkräften näher zu bringen, bietet die Universität Würzburg in ihren Lehramtsstudiengängen immer wieder entsprechende Lehrveranstaltungen an – etwa das Seminar „Es ist gut, wenn alles ein System hat – ist Inklusion eine Illusion? Gelingenheitsfaktoren für Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS)“ von Dozentin Birgit Carl. Als Seminararbeit erstellten die Studierenden am Ende die Broschüre „Was tun, wenn Schüler Autismus haben? Erklärungen, Hilfemaßnahmen, Beispiele“. Unterstützt wurden sie dabei von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Würzburg.
In der Folge haben Studierende weitere Materialien für den Unterricht entwickelt und zusammengestellt, ausgehend von der Idee, mit Hilfe eines Ordners zum Herunterladen rasch umsetzbare Hilfen zur praktischen Verwendung im Unterricht anzubieten. „Dank des großen Arbeitseinsatzes der Studierende und des Praxisbezugs ist eine sehr informative Handreichung entstanden, die Studierenden, Studienreferendaren und Lehrkräften Tipps und Anregungen für die Arbeit in Regelschulklassen geben kann“, so Birgit Carl.
Hier sind die Broschüre und das ergänzende Material herunterladbar.

