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Brandbrief eines Kollegiums an den Kultusminister: „Sie verletzen Ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Lehrkräften“

BERLIN. Die Stimmung in  deutschen Lehrerzimmern ist explosiv. Die Belastungen durch Inklusion und Integration nehmen überhand. Beispiel Hessen: Die Kollegien von mehr als 120 Schulen haben bereits Ende des vergangenen Jahres Überlastungsanzeigen an Kultusminister Alexander Lorz (CDU) geschickt, um auf die Bedrohung ihrer Gesundheit hinzuweisen. Entlastung seitdem? Offenbar Fehlanzeige. „Seit dem letzten Jahr hat sich die Situation eher noch verschlimmert. Das liegt unter anderem auch an den gewaltigen Aufgaben, die durch die Beschulung von Flüchtlingen auf uns zu kommen“, so schreibt uns ein Berufsschullehrer, dessen Schule einen Brandbrief ans Ministerium geschickt hat. „Auf die Unterrichtung von Flüchtlingen wurden wir in keinster Weise vorbereitet.“ Vielmehr sei die zusätzliche Unterrichtsverpflichtung (in seinem Fall: fachfremd „Deutsch als Fremdsprache“) von oben verfügt worden – ohne mit den entsprechenden Kollegen zuvor Rücksprache gehalten zu haben. Wo das Kollegium sonst noch der Schuh drückt? Wir dokumentieren das mutige Schreiben der Lehrerschaft an den Dienstherren.

Mit seinem Brandbrief will das Kollegium aufrütteln. Foto: herval / flickr (CC BY 2.0)

„Sehr geehrter Herr Kultusminister“, so schreibt das Kollegium, „die seit Jahren steigende Belastung der Lehrkräfte hinterlässt immer deutlichere Spuren, Erschöpfung und Stresssymptome machen sich verstärkt bemerkbar. Aber nicht nur unsere Gesundheit leidet, sondern auch die Qualität unserer Arbeit, da selbst bei permanentem Einsatz jenseits der Belastungsgrenze die wachsenden Anforderungen nur noch mit Abstrichen zu bewältigen sind.“ Die Arbeitsbelastung einer mit voller Pflichtstundenzahl arbeitenden Lehrkraft müsse aber so beschaffen sein, dass weder ihre Gesundheit geschädigt wird noch dienstliche Aufgaben vernachlässigt werden müssen. „Dies haben Sie als Dienstherr, das Staatliche Schulamt als Schulaufsicht und der Schulleiter als Dienstvorgesetzter im Rahmen Ihrer beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht zu gewährleisten. Dazu muss vor allem die Pflichtstundenzahl reduziert werden.“

Zu wenige Computer

„Es muss möglich sein, ein volles Deputat zu schultern, und zwar auch mit zwei Korrekturfächern, als Berufsanfänger oder als ältere Lehrkraft. Es darf nicht sein, dass sich immer mehr Kolleginnen und Kollegen gezwungen sehen, ihre Stelle zu reduzieren und damit auf Gehalt und Pensionsansprüche zu verzichten, um Gesundheit und Arbeitsqualität zu erhalten“, so heißt es in dem Schreiben, dem eine formelle „Überlastungsanzeige“ angehängt ist. Und weiter: „Arbeitsqualität und Gesundheit werden auch durch die völlig unzureichende Ausstattung unserer Arbeitsplätze gefährdet: Es existieren zu wenige, meist defekte und veraltete Computer, geeignete Büroarbeitsplätze sind nicht vorhanden, Materialien müssen zwischen Wohnung und Schule hin- und hergeschleppt werden. Konzentriertes Arbeiten und das Führen ungestörter Gespräche sind praktisch unmöglich. Für die ‚Pausen‘ fehlen Ruhebereiche, in denen man sich erholen könnte, obwohl sie in den Arbeitsschutzbestimmungen vorgesehen sind.“

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Pflichtstundenzahl erhöht

In den letzten Jahren sei die Pflichtstundenzahl erhöht worden. „Sie liegt heute wieder auf dem Niveau von nach dem 2. Weltkrieg, obwohl sich die Unterrichtsbedingungen erschwert haben und an Unterricht weitaus komplexere Anforderungen gestellt werden als damals“, so rechnet das Kollegium vor. Dazu habe es viele arbeitsintensive Neuerungen gegeben, deren Ende nicht absehbar sei – andererseits seien Ermäßigungs- und Deputatstunden abgebaut worden.

Dann listen die Lehrkräfte auf: „Exemplarisch für die zahlreichen Zusatzbelastungen seien genannt:

Es sei dringend notwendig, dass die Arbeitsbedingungen den für die Gesundheit der Beschäftigten geltenden Normen angepasst würden. „Um dies zu erreichen, ist es notwendig, dass in erster Linie die Pflichtstundenzahl reduziert wird, die Klassen kleiner und die Arbeitsbedingungen in der Schule verbessert werden. Dies kann beispielsweise durch Reduzierung des Lärmpegels in den Klassen mit Hilfe von Dämmung erfolgen, durch Bereitstellung adäquater Büroarbeitsplätze, durch Schaffung von Aufenthaltsräumen für die Zeit zwischen Unterricht am Vormittag und Unterricht bzw. weiteren Veranstaltungen am Nachmittag. Außerdem sind Räumlichkeiten für Tagungen, Koordinationen etc. notwendig. Die Schulsozialarbeit sollte ausgebaut werden und für berufsfremde Aufgaben (z. B. Medientechnik) sollten Fachkräfte eingestellt werden.“

“Recht auf Bildung”

Die Lehrkräfte schließen mit einem persönlichen Appell an Kulturminister Lorz: „Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf Bildung, das Sie selbst in Rahmenlehrplänen und Qualitätsstudien permanent fordern! Indem Sie die zwangsläufigen Abstriche bei der Unterrichtsqualität billigend in Kauf nehmen, verletzen Sie sowohl Ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Lehrkräften als auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern. Wir zeigen Ihnen daher hiermit unsere Überlastung an.“ Agentur für Bildungsjournalismus

Erleben Sie oder Ihr Kollegium ähnliches? Schreiben Sie mir, wir veröffentlichen auch Ihren Erfahrungsbericht (auch ohne Namensnennung) – andrej.priboschek@bildungsjournalist.de

Zum Bericht: Eine Grundschullehrerin berichtet von ihrem Alltag, der sie überlastet: „Man wird krank. Körperlich und seelisch“

 

 

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