Ein Kommentar von News4teachers-Herausgeber Andrej Priboschek.
Denken Sie bitte jetzt nicht an die Farbe Rot! Was passiert? Klar, Sie denken sofort an die Farbe Rot. Gedanken, die man eigentlich unterdrücken möchte, drängen sich eben besonders vehement auf. Deswegen ist der Wunsch des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, man möge Schulen „nicht unter Generalverdacht“ stellen, scheinheilig – was sollen die Eltern anderes tun, nachdem sie von ihm zuvor gehört haben, „Schulen können gefährliche Orte sein“?
Mitunter liegen Welten zwischen „gut gemeint“ und „gut gemacht“. Wie hier. Dass der Bundesmissbrauchsbeauftragte sexuellen Missbrauch von Kindern eindämmen will, ist seine Kernaufgabe und eine ehrenwerte Angelegenheit. Jedes missbrauchte Kind in Deutschland ist eines zu viel.
Der Generalverdacht fällt vor allem auf männliche Lehrer
Aber: Die Schulen zu Tatorten zu erklären, ohne auch nur Zahlen und Fakten zu Ausmaß und Erscheinungsformen des Problems zu benennen (weshalb flapsige Lehrerbemerkungen sich plötzlich in einer Kategorie mit Vergewaltigungen wiederfinden), ist fahrlässig.
Die Folgen für die Schule sind fatal: Die ohnehin spürbar zunehmende Verunsicherung von Eltern dürfte weiter wachsen. (Männliche) Lehrer geraten immer stärker unter Rechtfertigungsdruck. Schon heute sind Männer in Grundschulkollegien eine seltene Spezies geworden. Wie soll ein Mann zukünftig noch für die Aufgabe gewonnen werden, wenn ihm sofort der Verdacht anhaftet, ein Kinderschänder zu sein? Das ist aus Gründen fehlender männlicher Rollenvorbilder für die Kinder misslich, aber auch für die Grundschulen selbst – Grundschullehrkräfte werden ohnehin mittlerweile händeringend gesucht.
Andersherum: Wenn das Problem sexuellen Missbrauchs in Schulen wirklich so drängend wäre, würde es ja wohl nicht ausreichen, an die Lehrkräfte zu appellieren, nicht wegzusehen und aus falsch verstandener Kameraderie zu schweigen – dann müssten Taten her: zum Beispiel Lehrkräfte dazu verpflichtet werden, regelmäßig erweiterte Führungszeugnisse vorzulegen, in denen auch geringfügigere Strafen etwa wegen der Verbreitung von Kinderpornographie oder Exhibitionismus vermerkt sind.
Wie soll das aber zusammengehen mit der Initiative des Bundesmissbrauchsbeauftragten, Schulen zu Präventions- und Schutzzentren für missbrauchte Kinder zu machen? Wird dann also der Bock zum Gärtner gemacht?
Selbst wenn wir diese naheliegende Frage mal beiseiteschieben, bleibt bei diesem Punkt ein schaler Geschmack. Denn den Lehrkräften mal eben so die Verantwortung für die Eindämmung des Kindesmissbrauchs in Deutschland (!) aufzubürden, ohne auch nur mit einem Wort ihre Belastungssituation zu erwähnen, ist (gelinde gesagt) neben der Spur. Denn die Initiative unterstellt implizit, dass Lehrkräfte unterbeschäftigt sind und die zusätzliche Aufgabe mal eben wuppen können. Was sollen Deutschlands Super-Lehrer denn noch mal so eben nebenbei erledigen – die Kriege in der Welt befrieden? Das Verbrechen ausmerzen? Alle Krankheiten abschaffen?
Ein gesellschaftliches Problem? Die Schule soll’s lösen
Im Ernst: Es ist typisch – irgendjemand (in diesem Fall eben der Missbrauchsbeauftragte) stellt einen gesellschaftlichen Missstand fest (in diesem Fall die nach wie vor hohen Fallzahlen) – und reflexartig wird gefordert, dass die Schule sich darum kümmern muss. Ob Bildungsungerechtigkeit und, damit verbunden, sozialer Ausgleich, Integration von Flüchtlingskindern, Inklusion, mangelndes Demokratiebewusstsein, Ernährungsmängel, Bewegungsdefizite, Betreuungsprobleme von Familien, Jungenförderung, Mädchenförderung, Unkenntnis von Schülern in ökonomischen Fragen, falsches Zähneputzen – jedes gesellschaftliche Problem in Deutschland, dessen Ursprung sich irgendwie in der Jugend verorten lässt (und das trifft auf fast alle zu), sollen die Schulen lösen. Und zwar plötzlich und nebenbei, also ohne dass den Lehrern mitgeteilt würde, woher zusätzliche Mittel für die zusätzlichen Aufgaben kommen.
Wohlgemerkt: Kindesmissbrauch ist ein gravierender gesellschaftlicher Missstand, da gibt es nichts zu beschönigen. Wenn sich aber die Schulen darum kümmern sollen, dann müssen ihnen dafür auch Ressourcen bereitgestellt werden.
Im Umgang des Bundes mit den Ländern und der Länder mit den Kommunen gilt das Konnexitätsprinzip. Das bedeutet kurz gefasst: Wer bestellt – bezahlt. Übertragen wir das doch mal im aktuellen Geschehen auf die Schulen. Wenn Herrn Rörig Schulen ernsthaft zu Präventionszentren machen will, dann sollte er beispielsweise für die Schaffung von zusätzlichen Lehrer- oder Sozialarbeiterstellen eintreten, die das Thema beispielsweise in Form von Projektunterricht in die Schulen tragen und als Ansprechpartner für Schüler bereitstehen. Oder die Kultusministerkonferenz müsste sagen, worum sich Lehrer an anderer Stelle dann nicht mehr zu kümmern brauchen (Lesen? Schreiben? Rechnen?).
Weil aber Herr Rörig die Ressourcenfrage ausklammert, wirkt das Ganze wie eine billige PR-Nummer. Schlimmer: Der Bundesmissbrauchsbeauftragte missbraucht die Schulen für ein paar knallige Schlagzeilen.
Zum Bericht: Sexueller Missbrauch: Bundesbeauftragter betont, Schulen können „gefährliche Orte“ sein