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Jugendreport 2016: Die Natur ist den Kindern zunehmend fremd – Wo die Sonne aufgeht, weiß nur noch ein Drittel

KÖLN. Die meisten Schüler sind mit der Natur nur noch wenig vertraut. Vielen fehlen elementare Kenntnisse über natürliche Phänomene. Stattdessen herrscht ein verklärtes Verhältnis vor. Doch in der Konkurrenz zwischen medialer und natürlicher Umwelt muss die Natur keineswegs den Kürzeren ziehen.

Sommertag im Feriencamp: Die Mädchen und Jungen kriechen aus ihren Zelten. Im Norden erhebt sich die Sonne über dem Wald, in dem Wildschweineltern fröhlich mit ihren Ferkeln spielen. Die Betreuer machen sich auf, Äpfel, Weintrauben, Bananen und Melonen zu ernten, um das Frühstück zuzubereiten, zu dem auch die am Vortag gelegten zehn Eier des mitgebrachten Huhnes beitragen sollen. Die Jugendlichen gähnen herzhaft: Gestern war es spät geworden, denn es ist Ende Juli und die Kinder hatten viel Spaß beim Stockbrotbacken am Sommersonnenwendfeuer.

Eine entspannte Zeit also für die 11 bis 15 Jahre alten Jugendlichen, obwohl die Mehrheit von Ihnen zuvor angegeben hatte, eigentlich nicht gern in der freien Natur zu übernachten. Von Wildschweinen, Füchsen, Wölfen und Bären ist die Gruppe bislang glücklicherweise verschont geblieben….

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Wäre die Natur für Jugendliche attraktiver gestaltet würden sie auch weniger fernsehen? So einfach liegen die Verhältnisse wohl nicht. (Foto: twicepix/Flickr CC BY-SA 2.0)

Es ergibt sich ein krudes Bild, wenn man die Antworten der Jugendlichen beim 7. Jugendreport Natur beim Wort nimmt. Seit 1997 versucht der Jugendreport den Wandel des jugendlichen Verhältnisses zu Natur nachzuvollziehen, der mit der zunehmenden Technisierung des Alltags einhergeht. Zwischen November 2015 und Februar 2016 befragten die Experten rund 1.200 nordrhein-westfälische Sechst- und Neuntklässler.

Die Ergebnisse belegen eine weitgreifende Naturentfremdung. Die Berührungsängste der Jugendlichen gegenüber der Natur nehmen zu. So gab nur knapp jeder Zweite Schüler an, gerne in der freien Natur zu übernachten, 1997 waren es noch mehr als Zweidrittel. 54 Prozent fühlen sich dagegen allein im Wald unwohl, vor 19 Jahren waren es noch „nur“ 45 Prozent.

Viele Kinder verfügen offenbar nicht mehr über elementares Naturwissen. Die Frage ob die Sonne im Norden, Osten, Süden oder Westen aufgeht konnten nur 35 Prozent korrekt beantworten. Die Verteilung auf die drei anderen möglichen Antworten legt dabei außerdem eine „Ratequote“ von 10 bis 15 Prozent nah. Bei der Frage nach dem Monat, in dem die Sonne am spätesten untergeht, lag gar die Mehrheit falsch: „Im Juli“ vermutete ein Viertel der befragten Schüler. Nur knapp jeder sechste verband offenbar die verbreiteten Sonnenwend- oder Sommeranfangsfeiern rund um den 20. bis 22. Juni mit dem konkreten Himmelsgeschehen.

Drei essbare Früchte, die im deutschen Wald vorkommen, konnte nur rund jeder Zwölfte benennen. Doppelt so vielen fiel keine einzige ein. Das Bild der Schüler hinsichtlich essbarer Früchte zeigt sich mehr supermarkts- als naturgeprägt. Die hohe Zahl der Nennung exotischer Früchte verdeutliche dabei, so die Autoren der Studie, dass viele nicht mehr zwischen einheimischen und importierten Früchten unterscheiden könnten.

Dabei ist der Wald den meisten Jugendlichen nicht etwa völlig fremd. Drei Fünftel der Befragten war nach eigener Aussage im Sommer 2015 mindestens einmal wöchentlich dort, nur 14 von hundert waren in diesem Zeitraum gar nicht im Wald.

Auch auf Feld und Flur bewegen sich die meisten Schüler offenbar eher ohne konkretes Wissen: Nur gut ein Drittel (37 Prozent) von ihnen konnte drei hierzulande angepflanzte Getreidearten nennen, jeder fünfte kannte überhaupt keine. Das Hühner nur ein Ei pro Tag legen, wussten gerade einmal 19 Prozent, zwei Fünftel konnten keine Antwort geben, ebenso viele lagen mit ihren Vermutungen falsch. Wiederum vermuten die Autoren bei den richtigen Antworten eine hohe Zahl von „Zufallstreffern“.

Befragt nach den Bezeichnungen von männlichen und weiblichen Schweinen und ihrer Jungen, konnten keineswegs alle die Mitglieder der Schweinefamilie unterscheiden, so die Studie (65 Prozent gaben bei der offenen Frage korrekte Bezeichnungen von Jungen an, 54 Prozent für Weibchen und 39 Prozent für männliche Schweine). Nur den wenigsten fielen dabei die abweichenden Bezeichnungen für Wildschweine ein.

Ist vertieftes Wissen über die Landwirtschaft offenbar auch wenig verbreitet, bildet der Wald im Bewusstsein der jungen Generation nicht die landwirtschaftliche oder waldwirtschaftliche Nutzfläche, die er in Deutschland überwiegend ist. Die meisten betrachten Wälder vielmehr als natürlichen Lebensraum oder Erholungsraum, quasi eine „gute Stube draußen“. 86 Prozent sind der Ansicht, nur kranke Bäume sollten gefällt werden. 51 Prozent stimmten der Aussage zu, man solle gar keine Bäume fällen.

Das moderne Naturschutzideal, den Wald verwildern zu lassen, findet allerdings ebenso wenig Anklang bei den Jugendlichen. 33 Prozent halten das sogar für schädlich für den Wald. Dagegen ist es für die Jugendlichen eine der wichtigsten Pflegemaßnahmen, den Wald sauber zu halten, 92 Prozent hielten das für nützlich für den Wald.

Konstanten über die Jahre finden die Forscher vor allem in einer „fast schon pseudoreligiösen Naturverklärung durch die Jugendlichen. Eine bedrohte, als „gut“ klassifizierte Natur steht dabei einer Bedrohung durch den Menschen gegenüber, vor dem sie geschützt werden müsse. Ohne Menschen wäre die Natur in Harmonie und Frieden, glauben 51 Prozent der Befragten. Ebenso viele unterstützen die Aussage Bäume hätten eine Seele.

Insgesamt betrachtet hatten Landkinder eine etwas engere Beziehung zur Natur als Stadtkinder und bewiesen bei den einschlägigen Fragen auch etwas mehr Wissen über die Natur. Ihre Eltern sind zu größeren Anteilen uneingeschränkt damit einverstanden, dass sie sich unbeaufsichtigt in der freien Natur aufhalten (50 Prozent bei den Eltern von Landkindern, gegenüber 35 Prozent der Eltern in Großstädten). Dementsprechend benennen mehr als doppelt so viele Land- wie Stadtkinder „Draußen im Grünen“ als bevorzugten Freizeitort. Stadtkinder hingegen verbringen laut Befragung ihre Freizeit am liebsten in ihrem eigenen Zimmer, das zunehmend mit elektronischen Medien aufgerüstet werde.

Mehr als die Hälfte aller Jugendlichen verbringen täglich viel Zeit vor elektronischen Medien. Unterscheiden sich die Zahlen bezogen auf Stadt und Landkinder nur geringfügig, ist die Differenz zwischen Stubenhockern und Naturliebhabern erheblich. 78 Prozent der Jugendlichen die ihre Freizeit am liebsten in ihrem Zimmer verbringen, schauen mehr als drei Stunden auf Bildschirme aller Art. Von den Kindern, die sich am liebsten im Grünen aufhalten waren es dagegen nur 37 Prozent. Ähnlich liegen die Unterschiede zwischen häufigen und seltenen Besuchern des Waldes.

Natur und mediale Umwelt stehen also in unmittelbarer Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Jugendlichen. Die Schaffung einer abwechslungsreichen Landschaft mit jugendadäquaten Entdeckugs- und Aktivitätsräumen bezeichnen die Experten denn auch als eine vorrangige, bislang arg vernachlässigte Aufgabe von Landschaftsplanern.

Dem allzu leicht gezogenen Umkehrschluss, dass derartige Freizeiträume als Wunderwaffe gegen übermäßigen Medienkonsum taugen, erteilen sie allerdings eine eindeutige Absage. So sei aus den Zahlen keine eindeutige Aussage über Ursache und Wirkung abzuleiten. Es sei mithin nicht erkennbar, ob, die Natur Kinder von den Bildschirmen wegziehen oder ob es sich bei den Naturliebhabern nicht ohnehin um Medienmuffel handele. Das die Natur allein offenbar auch nicht glücklich macht, hat bereits der Jugendreport 2010 ergeben: 54 Prozent der Befragten gaben an, beim Spazierengehen am Liebsten Musik zu hören. (zab)

• Jugendreport Natur 2016

• zum Bericht: Der Wald als Klassenzimmer: Kindern fehlt Bezug zur Natur
• zum Bericht: Forscher: Umweltunterricht stärkt Naturverbundenheit bei Schülern
• zum Bericht: Zoos schlagen Alarm: Immer öfter werden die Tiere von Schülern mit Steinen und Müll beworfen – Symptom für wachsende Erziehungsdefizite?

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