BERLIN. Die Bundesländer missachten bei der Genehmigung von Privatschulen das Grundgesetz. Die laut Verfassung verbotene „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern“ wird durch Schulpolitik und Verwaltungspraxis unterlaufen. Zu diesem Schluss kommen Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) in einer neuen Untersuchung.
Sind Privatschulen entsprechend dem gängigen Vorurteil nur etwas für Wohlhabende, die sich die soziale Abschottung ihrer Kinder viel Geld kosten lassen können? Sicherlich nicht, dagegen sprechen schon die schiere Zahl der Privatschulen in Deutschland und die Vielfalt der Privatschullandschaft.
Unbestreitbar gibt es unter den rund 5400 Privatschulen (2013 bei steigender Tendenz) solche, die Eltern ein erhebliches Schulgeld abverlangen. In einzelnen Fällen kommen dabei bis zu 30.000 Euro pro Jahr zusammen. Trotz bisweilen vorhandener Stipendienprogramme bleibt die soziale Durchmischung der Schülerschaft in solchen Fällen in der Regel gering.
Auch wenn derart krasse Fälle die Ausnahme sind, gibt es sie in fast allen Bundesländern und das trotz des im Grundgesetz verankerten Sonderungsverbots. Dieses verbietet es eigentlich den Privatschulen, Schüler aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse vom Schulbesuch auszuschließen. „Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn […] eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird“, heißt es in Artikel 7.
Wie die Bundesländer in Schulpolitik und Verwaltungspraxis das Sonderungsverbot unterlaufen, ist Gegenstand einer aktuellen Studie, des unter anderem von der bekannten Bildungsforscherin Jutta Allmendinger geleiteten Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). Für ihre Studie analysierten Michael Wrase (Rechtswissenschaftler) und Marcel Helbig (Bildungssoziologe) einschlägige Gerichtsurteile und Gesetze sowie Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften der Bundesländer. Außerdem verarbeiteten sie Auskünfte der Landesministerien über die Verwaltungspraxis.
Aus der bisherigen Rechtsprechung leiten Wrase und Helbig neun Grundsätze ab, die eine effektive Einhaltung des Sonderungsverbots gewährleisten müssten. Dazu bedürfe es unter anderem der Konkretisierung des Sonderungsverbots in Landesgesetzen, Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften; der Benennung einer Höchstgrenze für das Schulgeld; der Befreiung vom Schulgeld für Geringverdiener bzw. Sozialleistungsempfänger und der Kontrolle der Aufnahmepraxis.
In keinem Bundesland würden alle neuen Grundsätze eingehalten. Lediglich Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen erfüllten zumindest fünf, Bundesländer wie Thüringen oder Bremen beachten keine dieser Vorgaben.
Die Mehrheit der Länder konkretisiere das Sonderungsverbot nicht in eigenen Landesgesetzen. Für Genehmigungsbehörden und Schulträger werde somit nicht klar, wie Schulgelder ermittelt und bis zu welcher Höhe sie erhoben werden können. „Diese gesetzliche Nicht-Regelung fordert eine uneinheitliche Verwaltungspraxis geradezu heraus“, schreiben die Forscher.
Eine festgesetzte Höchstgrenze für das Schulgeld gebe es in den meisten Ländern gar nicht. Wo es sie gibt, liege sie über den 160 Euro, die von der Rechtsprechung als Maximum für das durchschnittliche Schulgeld angesehen werde. In Berlin werde den Privatschulen sogar gewährt, 100 Euro und mehr monatliches Schulgeld von SGB II-Empfängern zu erheben.
Kein einziges Bundesland überprüft der Studie zufolge die tatsächliche Aufnahmepraxis an den Privatschulen auf Einhaltung des Sonderungsverbots. Eine Einkommensstaffelung der Schulgelder allein reiche dazu nicht aus betonen die Forscher.
Von einer strikten Einhaltung des Sonderungsverbots, wie vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen gefordert und zur Grundlage der staatlichen Förderung von Privatschulen gemacht, könne auf dieser Basis keine Rede sein. Es besteht vielmehr die Gefahr, dass die Schulen Kinder von Eltern mit hohem Einkommen faktisch bevorzugten, da sie so höhere Einnahmen für den laufenden Betrieb, auch unabhängig vom Schulgeld erhiellten.
Nur wenn die Zulassung in der Praxis unabhängig vom Einkommen der Eltern erfolge und dies auch effektiv kontrolliert würde, werde eine Sonderung der Kinder durch die Genehmigung einer Ersatzschule nicht gefördert. Da es aber kein Monitoring der Aufnahmepraxis gibt, zum Beispiel über anonymisierte Erhebung von Einkommensdaten der Eltern, sei bislang das tatsächliche Ausmaß der sozialen Ungleichverteilung der Schüler auf Privatschulen in allen Bundesländern unbekannt. (zab, pm)
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