BERLIN. Die Lehrerverbände haben mit zum Teil scharfen Worten auf die Ergebnisse der gestern veröffentlichten TIMS-Studie reagiert. Die GEW forderte, deutlich mehr Geld für individuelle Förderung und Inklusion aufzuwenden.VBE-Chef Udo Beckmann monierte, dass die Politik die Ergebnisse von internationalen Schulleistungsvergleichen zu wenig berücksichtige – und den Schulen die notwendigen Ressourcen verweigere. Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands,meinte gar: „Die Grundschule droht wegzubrechen.“
„Die mittelmäßigen Ergebnisse überraschen mich keineswegs“, erklärte Kraus, „man darf sich damit aber nicht zufrieden geben. Schließlich wurden die Grundschulen in einigen deutschen Ländern in den letzten Jahrzehnten zu einer Spielweise falscher Reformen. Die Folgen sind nun vor allem in einigen deutschen Ländern spürbar: Die Zahl der Unterrichtsstunden wurde gekürzt, die Ansprüche wurden abgesenkt, der Grundwortschatz wurde reduziert, das Schreiben nach Gehör wurde eingeführt, zulasten der Kernfächer Deutsch und Mathematik wurde mit zweifelhaftem Erfolg ein Grundschul-Englisch etabliert.“
Bedauerlich sei, dass die aktuelle Studie aufgrund der relativ schmalen Stichprobe nicht nach Bundesländern ausdifferenziert werden könne. Kraus: „Sonst hätte sich mit Gewissheit ein erhebliches innerdeutsches Gefälle herausgestellt. Allein die Zahl der Unterrichtsstunden, die Grundschüler genießen, ist in hohem Maße unterschiedlich. Ein Grundschüler in Bayern hat in vier Jahren etwas mehr als 4.100 Stunden Unterricht, ein Grundschüler in Berlin oder Brandenburg nur rund 3.700, ein Schüler in NRW 3.900. Die Differenz entspricht einem halben bzw. einem viertel Schuljahr.“
Leidtragende seien nicht nur die Schüler, sondern auch die weiterführenden Schulen, die vor allem in den Fächern Deutsch und Mathematik in ihren Eingangsklassen oft nicht mehr das voraussetzen könnten, was sie vor 25 Jahren hätten voraussetzen können. „Es wird Zeit, dass man unseren Grundschülern wieder etwas mehr zumutet, weil man ihnen mehr zutrauen kann. Die Grundschule muss statt auf Erlebnisorientierung wieder mehr auf Ergebnisorientierung setzen“, erklärte Kraus.
Die GEW sieht hingegen durch TIMSS den Befund bestätigt, dass Kinder aus sozial schwachen Familien in Deutschland deutlich geringere Bildungschancen haben. „Die TIMSS-Ergebnisse spiegeln die zunehmende soziale Spaltung in der Gesellschaft wider. Sie zeigen, dass alle Maßnahmen das Kardinalproblem des deutschen Schulwesens, die enge Kopplung von Schulerfolg und sozialer Herkunft, bisher nicht gelöst haben. Es fehlt an tragfähigen Konzepten, die Defizite, die Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern mitbringen, zu überwinden“, sagte Ilka Hoffmann, für Schule verantwortliches GEW-Vorstandsmitglied.
Hoffmann erklärte: „In einer inklusiven Schule können alle Kinder ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend unterstützt und gefördert werden. Dafür brauchen wir eine bessere personelle und materielle Ausstattung inklusiver Schulformen, eine Lehrerbildung, die die angehenden Pädagoginnen und Pädagogen auf die soziale Realität in den Schulen vorbereitet und ihnen das notwendige Handwerkszeug für gute und erfolgreiche Arbeit mit heterogenen Lerngruppen mitgibt.“
Mit Blick auf das mäßige Abschneiden der deutschen Grundschüler in Mathematik schlug Hoffmann vor, Programme aufzulegen, die Mädchen schon in der Grundschule Mut machen, auch im Fach Mathematik ihre Fähigkeiten zu zeigen. Die Ausweitung von Konzepten wie Sinus, das Diagnose mit Förderung und Unterricht verbindet, seien hilfreich, die Leistungen aller Schülerinnen und Schüler zu verbessern und darüber hinaus auch die spezifischen Schwierigkeiten von Mädchen im Mathe-Unterricht aufzugreifen.
TIMSS bestätige noch einmal, dass auch mit Blick auf die sogenannten Risikogruppen in der Vergangenheit zu wenig getan worden sei. „Diese Gruppe von Schülerinnen und Schüler konzentrierten sich häufig in bestimmten Stadtvierteln oder Schulen. Diese Schulen brauchen deutlich mehr personelle Ressourcen und eine nachhaltige Unterstützung bei der Konzeptentwicklung“, sagte Hoffmann.
Udo Beckmann, Vorsitzender des VBE, zeigte sich empört. „Wir können das Testen aufgeben, wenn die Politik nicht bereit ist, massiv zu investieren, um den Schulen die Gelingensbedingungen zu geben, die sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben brauchen“, erklärte er. „Um stetig dieselben Ergebnisse zu erhalten, brauchen wir nicht an Vergleichsstudien teilnehmen. Um die Ergebnisse tatsächlich zu ändern, braucht es Investitionen, um zum Beispiel individuelle Förderung gewährleisten zu können. Es funktioniert nicht, wenn die Politik riesige Anforderungen formuliert, sich bei den Investitionen für Verbesserungen aber lieber im Bereich von homöopathischen Dosen bewegt.“
Weiter betonte er: „„Uns verärgert zunehmend, wie mit den Ergebnissen der Vergleichsstudien umgegangen wird. Alle vier Jahre wird festgestellt, wie wichtig die Maßnahmen zur individuellen Förderung sind. Alle vier Jahre wird die entsprechende Qualifizierung für Lehrkräfte gefordert. Aber wir wissen, dass die Heterogenität der Lerngruppen eben noch immer nicht ausreichend Eingang in die Lehreraus-, -fort- und -weiterbildung gefunden hat. Den Lehrkräften alle vier Jahre einen Regenschirm in Aussicht zu stellen, sie dann aber doch im Regen stehen lassen, ist unfair und zeigt Kurzsichtigkeit.” Der VBE fordere neben einem breiten Fortbildungsangebot einen verbindlichen Anspruch der Lehrkräfte auf Qualifizierung. Der Bundesvorsitzende führt aus: „Die Lehrkräfte brauchen ein festes Fortbildungskontingent innerhalb ihrer Dienstzeit, auf das sie in einem Schuljahr einen Anspruch haben. Selbst wenn derzeit ein gutes Fortbildungsangebot vorhanden ist, nutzen es viele mit Rücksicht auf die personelle Unterdeckung in den Schulen und die damit verbundene Mehrbelastung der übrigen Lehrkräfte nicht.”
Beckmann lenkte den Blick auch auf einen anderen Missstand: „Die Lehrkräfte stehen tagtäglich vor immer heterogener werdenden Lerngruppen und sollen alle individuell fördern – Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, Mädchen und Jungen. Bei den in der Regel bestehenden Lerngruppengrößen ist das aber nicht möglich. Wir fordern daher die konsequente Absenkung der Lerngruppengröße und eine angemessene Schüler-Lehrer-Relation.” Agentur für Bildungsjournalismus

