STUTTGART. Kulturkampf im Ländle um „Schreiben nach Gehör“: Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hat den Grundschulen Lehrmethoden, bei denen Kinder zunächst nicht auf die richtige Rechtschreibung achten müssen, verboten – der Grundschulverband ist empört. Seine Landesvorsitzende, die Prorektorin der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd Prof. Claudia Vorst, fordert Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) jetzt in einem Brief auf, einzuschreiten und die Anordnung seiner Ministerin rückgängig zu machen. News4teachers dokumentiert den Inhalt des Schreibens.
Eisenmann hatte in einem Brief an die Grundschulen das Verbot gerechtfertigt und dabei dargelegt, dass „richtiges Schreiben“ eine „Schlüsselkompetenz“ sei, die „wieder gestärkt werden“ müsse. Dies lege den Umkehrschluss nahe, so meint nun die Vorsitzende des Grundschulverbands, dass den Grundschullehrkräften unterstellt werde, die Entwicklung dieser Kompetenz vernachlässigt zu haben. Claudia Vorst widerspricht: „Die uns vorliegenden empirischen Untersuchungen zeigen, dass die Rechtschreibleistungen seit 2000 in der Sekundarstufe gleich geblieben, in der Grundschule sogar besser geworden sind.“
Die Ministerin stelle damit Unterrichtskonzepte, die von Anlauten ausgehen, ins Abseits. Diese würden ihr zufolge häufig zu einem unangemessen langen Verharren der Schüler in der Phase des alphabetischen Schreibens führen und somit einem frühen systematischen Rechtschreibunterricht entgegenwirken. „Diese wissenschaftlich und didaktisch haltlose Aussage, die so tut, als gäbe es nur die erste Stufe des Schriftspracherwerbs, nicht aber die nachfolgenden orthographischen und morphematischen Strategien, bei deren Erwerb die Kinder in der Grundschule selbstverständlich differenziert unterstützt und angeleitet werden, ist nur befremdlich“, meint die Verbandsvorsitzende.
Auch widerspreche Eisenmann damit den Empfehlungen der KMK zur Arbeit in der Grundschule. Darin heiße es: „Beim Schriftspracherwerb ist das lautorientierte Schreiben ein Entwicklungsschritt auf dem Weg zum normgerechten Schreiben. Das Kind wird ausgehend von seinen lautorientierten Verschriftungen von Anfang an systematisch an das orthografisch korrekte Schreiben herangeführt. Orientiert an fundierten Modellen der Fachwissenschaft und Fachdidaktik unterstützt der Unterricht diese individuellen Entwicklungen.“
Mit ihrem Verbot bringe Eisenmann die Schulen, die Seminare für Didaktik und Lehrerbildung und die Weiterbildungsinstitutionen in eine schwierige Lage. „Denn der rechtlich bindende Bildungsplan trägt ihnen auf, aktuelle empirische Erkenntnisse aus der Lernforschung, der (Neuro-)Linguistik und der wissenschaftlichen Sprachdidaktik in ihren Unterricht einzubeziehen. Das Schreiben der Ministerin hingegen verlangt von ihnen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vergessen und dem Bauchgefühl oder dem veralteten Kenntnisstand ihrer Ministerin zu folgen, die dem seit den 80-er Jahren widerlegten Fehlervermeidungsprinzip anhängt“, so schreibt Claudia Vorst. „Denn wir wissen längst, dass unser Gehirn völlig anders funktioniert, sehr viel beweglicher ist, dass sogenannte ‚Fehler‘ sich nicht unverzüglich einbrennen und dass Gelerntes viel nachhaltiger wirkt, wenn es in aktiver Auseinandersetzung mit den Gegenständen passiert.“
Krabbeln auch verbieten?
Nach derselben Logik müsse die Kultusministerin einem Kind, welches das Laufen erlernt, das Krabbeln verbieten, beim Spracherwerb auf korrekter Artikulation von Anfang an bestehen – oder Milchzähne als ineffektive Mittel zum Kauen gesetzlich untersagen. Die Verbandschefin: „Beim lautierenden Schreiben handelt es sich um einen notwendigen Entwicklungsschritt, der unterrichtlich zeitweilig unterstützt werden muss, und keinesfalls um eine Methode, die bis ins weit fortgeschrittene Grundschulalter hinein perpetuiert wird.“
Aus dem Verbot durch Eisenmann ergäben sich eine Reihe von – durchaus ernstgemeinten – Fragen:
- „Dürfen die Grundschülerinnen und Grundschüler so lange keine eigenen Texte mehr schreiben, bis sie die Orthografie beherrschen? Dies wäre nicht vor Klasse 9, denn laut den Bildungsplänen (die hier wiederum der Forschung folgen!) ist dann erst das Erlernen der Rechtschreibung abgeschlossen.
- Wie sollen Kinder Fehlersensibilität entwickeln, wenn sie nicht (mehr) über Schreibweisen nachdenken dürfen, sondern nur noch korrekte Schreibweisen einüben?
- Kann es sich ein Land wie Baden-Württemberg leisten, sich bundesweit lächerlich zu machen, indem wichtige – und zum Teil jahrzehntealte – Forschungsergebnisse schlichtweg ignoriert werden?“
Den Grundschulverband hätten in den vergangenen Tagen zahlreiche entsetzte E-Mails und Anrufe von Schulen aus dem ganzen Land erreicht. Sie sähen sich unter den Generalverdacht gestellt, ihren fachdidaktischen Auftrag im Fach Deutsch nicht ernst zu nehmen. Vorst: „Der Rechtfertigungsdruck der Schulen, die nicht von Anfang an jedem Kind in jedem Fach jeden Fehler rot anstreichen wollen, sowohl vor den Eltern als auch in einer zunehmend populistisch geprägten Öffentlichkeit, wird enorm.“
Warum lasse die Ministerin sich von der AfD im Landtag treiben, anstatt die Schulen durch Fortbildungen zu unterstützen? „Dass uns jetzt noch die eigene Ministerin unprofessionelle Arbeit unterstellt und uns umgekehrt eine stammtischreife, populistische Lösung ans Herz legt nach dem Motto ‚Wir achten einfach jetzt mal wieder auf richtiges Schreiben‘, ist empörend“, meint Vorst. Bundesländer, die sich laut aktueller Schulleistungsstudien verbessert hätten, investierten in Unterricht, in Fortbildung und in ihre Lehrkräfte. Vorst betont: „Unserer Meinung nach besteht hier für Baden-Württemberg dringend Handlungsbedarf. Wir brauchen Fortbildungen und kompetente Prozessbegleitung für die Schulen vor Ort für die Qualitätsentwicklung von innen.“
Eisenmann hatte ihr Verbot von „Schreiben nach Gehör“ auch mit dem schwachen Abschneiden Baden-Württembergs im IQB-Bundesländervergleich begründet. Danach sackte der einstige Primus auf hintere Ränge ab – von Platz 2 im Fach Deutsch beim Zuhören rutschten die Neuntklässler im Land auf Platz 14, beim Lesen von Platz 3 auf Platz 13 und bei der Orthografie vom zweiten auf den zehnten Rang.
Die Antwort von Kretschmann auf den Brief steht aus. Agentur für Bildungsjournalismus
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