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Kulturkampf um den (gebundenen) Ganztag: Pädagogen sehen Förderchancen, Gymnasial-Eltern lehnen ihn ab

BERLIN. Um den Ganztag entbrennt ein Kulturkampf: Während Pädagogen und Eltern die Chancen des gebundenen Modells für eine bessere Förderung der Schüler sehen, trommelt eine G9-Initiative in Nordrhein-Westfalen jetzt auch ausdrücklich für eine maximale Schulzeit von sechs Stunden am Tag. Sie weiß eine breite Unterstützerfront hinter sich.

Im Ganztag – hier an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen, das am Projekt “Ganz In” teilnimmt – können Schüler auch mal entspannt einen Comic lesen. Foto: Stiftung Mercator / flickr (CC BY 2.0)

In Nordrhein-Westfalen läuft derzeit ein Volksbegehren gegen G8. Eine Initiative „g9-jetzt-nrw“ möchte so schnell wie möglich die Schulzeit am Gymnasium bis zum Abitur verlängern und sammelt dafür Unterschriften. Wenn binnen eines Jahres eine Million Menschen die Petition unterzeichnet haben, muss sich der sich der Landtag mit dem Thema befassen und innerhalb von sechs Monaten eine Entscheidung treffen. Was die wenigsten wissen dürften: „g9-jetzt-nrw“ trommelt nicht nur für ein zusätzliches Schuljahr – sondern auch ausdrücklich gegen den Ganztag am Gymnasium. Der verpflichtende Unterricht dürfe maximal sechs Stunden am Tag betragen, so lautet eine Kernforderung.

Am Nachmittag seien die Schüler kaum noch aufnahmefähig, heißt es. Eigentlich, so wird dann aber deutlich, geht es den Initiatoren aber weniger um einen Schutz der Schüler vor Überlastung – als vielmehr darum, das Familienleben nicht von der Schule (fremd-)bestimmen zu lassen. „Familien merken den höheren Schulstress auch daran, dass ein gemeinsames Familienleben immer schwieriger wird, wenn bei mehr als einem Kind einmal die Tochter Nachmittagsunterricht hat und erst spät heim kommt und dann am nächsten Tag der Sohn. Und somit die Familie dann (in diesem Beispielfall) gleich an zwei Tagen nicht komplett mittags versammelt ist.“ Welche Familie ist denn heutzutage mittags komplett versammelt, so möchte man fragen.

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Verband: „Die deutsche Halbtagsschule ist ein Auslaufmodell“ – Ganztagskongress in Essen

Weiter heißt es: „Hier wird Familien und besonders Jugendlichen Lebenszeit gestohlen! Für uns als Eltern war es sehr gut, neben der Schule noch Zeit zu haben, um uns musikalisch und kirchlich zu engagieren. Das hat auch die Persönlichkeitsbildung gefördert. Diese Zeit fehlt heute, wenn immer mehr Tage auch nachmittags von der Schule belegt werden. Eine eigene Zeiteinteilung wird so unterbunden. Persönlichkeitsentfaltung erschwert. Engagement für andere ist kaum noch möglich. Langfristig ist das für die Gesellschaft nicht gut, wenn der Zeitplan der Familien derart durch die Schule fremdbestimmt ist.“

Tatsächlich können sich die G9-Aktivisten mit ihrer Ablehnung des Ganztags auf eine breite Unterstützung in ihrer Eltern-Klientel stützen. In einer Umfrage der Landeselternschaft der Gymnasien NRW unter ihren Mitgliedern gab es ein deutliches Resultat: 90 Prozent aller Befragten möchten keinen Ganztag, zumindest keinen gebundenen. Gegen unverbindliche Betreuungsangebote hat, natürlich, kaum jemand etwas.

“In den Slums unserer Städte”

Wortreich begründet die Initiative die Ablehnung des gebundenen Ganztags, um den Verdacht zu zerstreuen, es gehe um die Perspektive einer elitären Elternschicht. „Ein Polizist und eine Krankenschwester –  beide mit Wechselschicht – sind nicht mehr in der Lage, irgendein häusliches Leben zu organisieren, wenn die Kinder auch noch von 8:00 bis 16:00 Uhr jeden Tag in der Schule gebunden werden. Eine Mutter, die bei der Telekom in der Kundenbetreuung arbeitet und schon mal am Wochenende etwas tun muss, der Vater muss bei Miele zu einer Fortbildung von Freitag bis Sonntag und bekommt dafür an anderen Wochentagen frei – auch in diesem Fall ist ein verpflichtender Ganztag eine empfindliche Störung von allem, was in unserer Gesellschaft für Eltern sinnvoll ist.“ Großzügig wird dann noch eingeräumt: „Dieses eindeutige, empirisch gesicherte Fazit verkennt nicht, dass es belastete Familien in den Slums unserer Städte gibt, für die eine verpflichtende Ganztagsbetreuung der Kinder wichtig wäre.“

Studie: Von hui bis pfui – Ausstattung von Ganztagsschulen von Land zu Land extrem unterschiedlich

Die Crux an der Befragung: Es handelte sich um eine Willensbekundung von (Gymnasial-)Eltern, die in der Regel eben nicht zu den sozial Schwachen gehören und die zudem keine Erfahrungen mit einem pädagogisch strukturierten Ganztag haben. Eine repräsentative Studie der Bertelsmann Stiftung, die gezielt Eltern mit Ganztagserfahrungen und solche ohne in den Fokus nahm, kam dann auch zu ganz anderen Ergebnissen: Unter Eltern von Ganztagsschülern ist die Zufriedenheit mit der individuellen Förderung ihrer Kinder größer als unter Eltern von Halbtagsschülern (66 zu 54 Prozent), und unter Eltern von Kindern im gebunden Ganztag ist die Zufriedenheit größer als bei offenen Angeboten (58 gegenüber 51 Prozent). Heißt: Je mehr der Ganztag tatsächlich von Lehrern gestaltet wird, desto besser wird er angenommen.

Auch unter Pädagogen, das zeigt eine heute veröffentlichte, allerdings nicht-repräsentative Umfrage der Hertie-Stiftung unter Schulleitern und Lehrern der Sekundarstufe I, scheint die Präferenz eindeutig zu sein: 47 Prozent gaben an, dass sie von den drei Varianten der Ganztagsschule – gebunden, teilgebunden, offen – das gebundene Modell für das bestmögliche halten. 22 Prozent der Lehrkräfte sprachen sich für die teilgebundene, 19 Prozent für die offene Variante aus.

Besseres soziales Miteinander

„Dem Modell der gebundenen Ganztagsschule gelten die meisten Sympathien von Lehrern und Schulleitern. Dabei sind nicht nur Lehrkräfte, deren Schule das gebundene Ganztagsmodell bereits anbietet, von der gebundenen Variante überzeugt – viele Lehrer auch aus offenen und teilgebundenen Ganztagsschulen sehen das gebundene Modell als das bestmögliche an“, erklärt John-Philip Hammersen, Geschäftsführer der Hertie-Stiftung. Eine Vielzahl von Lehrern spreche sich für die gebundene Ganztagsschule aus, weil dadurch der Tagesablauf besser an die Bedürfnisse der Schüler angepasst werden könne und ein besseres soziales Miteinander, beispielsweise durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, möglich sei. Zudem wurde angeführt, dass gerade auch Kinder aus eher bildungsfernen Elternhäusern dadurch besser gefördert werden könnten.

Das sind Argumente, die auch von Eltern in Hessen derzeit vorgebracht werden. Dort tobt ein Streit um ein neues Schulgesetz, das einen „Pakt für den Nachmittag“ vorsieht – aber dabei eben nur nach Gusto buchbare  Betreuungsangebote bieten soll. Dem Landeselternbeirat geht das nicht weit genug. Dieser Pakt könne den Ausbau echter Ganztagsschulen nicht ersetzen, kritisiert Vorsitzender Reiner Pilz. Das Nachmittagsangebot sei lediglich eine Betreuung, es gebe dafür keine pädagogische Qualitätskontrolle. Nur in einer echten Ganztagsschule könnten Kinder gezielt gefördert werden, sagt Pilz. Und betont: „Wo Schule draufsteht, sollte auch Schule drin sein.“ Agentur für Bildungsjournalismus

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