MÜNCHEN. Vier Gymnasiallehrern aus Bayern ist jetzt der Kragen geplatzt – in einem namentlich unterzeichneten Brief an Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU), veröffentlicht im „Münchner Merkur“, beklagen sie einen Wertverlust gymnasialer Bildung (wohl nicht nur) im Freistaat. Das ist mutig und ehrenwert, allerdings auch ein Stück weit entlarvend. Gefordert wird nämlich die Rückkehr in eine Bildungswelt mit einer durchweg heterogenen und leistungsbereiten Schülerschaft, die möglichst keine privaten Probleme wie die Scheidung der Eltern oder mediale Reizüberflutung in den Unterricht trägt. Aber wo gibt’s die denn noch?
Der Anlass des Schreibens erscheint unbedeutend – und doch ist er nach Aussage der vier Lehrkräfte „der Tropfen, der der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“. Das bayerische Kultusministerium hat nämlich verfügt, die Bekanntgabe der Ergebnisse der schriftlichen Abiturprüfungen vorzuverlegen, damit sich die Lernzeit für die Schüler für die daran anschließenden mündlichen Zusatzprüfungen verlängert. So weit, so schülerfreundlich. Und zum Ärger der Kollegen. „Nicht nur, dass insbesondere den Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern heuer der fast unmöglich erscheinende Zeitraum von nur drei Wochen und zwei Tagen zugestanden wird, die Hieroglyphen ihrer Schützlinge zu lesen, zu vergleichen, zu korrigieren und zu benoten. Nebenbei soll ein Zweitkorrektor immer noch in denselben drei Wochen und zwei Tagen dieselben etwa 300 Seiten geistiger Ergüsse eines typischen Deutsch-Kurses genau so sorgfältig und wohlwollend korrigieren und benoten wie der Erstkorrektor“, schimpfen die Unterzeichner des Protestbriefes.
Für die vier Pädagogen ist die Entscheidung bezeichnend. „Die Korrekturzeiträume bleiben kurz und die eigentlich als Ausnahme konzipierte mündliche Zusatzprüfung wird zur weiteren, regulären Abiturprüfung standardmäßig etabliert. Und das nur, um einem geringen Prozentsatz ein ums andere Mal eine weitere ‚allervorletzte‘ Chance zu geben.“ Dann wird es grundsätzlich: „Es wird damit einmal mehr eine Bildungspolitik vorangetrieben, die das bayerische Gymnasium schleichend zur Gesamtschule verkommen lässt. Die Vermittlung der Freude an Wissenschaften und die Beschäftigung mit unterschiedlichsten Themengebieten muss dadurch leider aufgegeben werden zugunsten eines inflationären Abiturs.“ Das Gymnasium zur Gesamtschule – „verkommen“? Nicht nur an dieser Stelle des Briefes wird ein gymnasialer Dünkel erkennbar.
„Wir würden ja gerne kompetenzorientiert und differenziert unterrichten, aber die Zunahme der Heterogenität der Schülerschaft verhindert dies oft. Die immer größer werdende Zahl an ärztlich attestierten Nachteilsausgleichen wie Legasthenie, Lese-Rechtschreibschwäche oder AD(H)S lassen es in vielen Fällen nicht zu, einen einigermaßen einheitlichen und ruhigen Unterricht durchführen zu können“, so meinen die Studienräte. „Konzentriere ich mich auf die schwachen Schülerinnen und Schüler, langweilen sich die eigentlich gymnasial Befähigten. Verteile ich hingegen ein Arbeitsblatt mit einem Text, der sich über mehr als zehn Zeilen erstreckt und der auch Nebensätze beinhaltet, hänge ich einen nicht unwesentlichen Teil der Klasse ab, der selbst in der 10. Jahrgansstufe noch nicht in der Lage ist, längere Texte flüssig lesen und verstehen zu können.“
Weiter heißt es: „Schon in der 5. Klasse bekommen wir Kinder aus der Grundschule, deren Deutschnote in einem krassen Gegensatz zu deren Lese- und Rechtschreibfähigkeiten steht. Auf der anderen Seite ist Schule heutzutage kein Ort mehr des Paukens. Hier werden Ehekriege ausgefochten, vornehmlich Schülerinnen hungern sich bis auf ein Mindestmaß an Körpermasse herab und ritzen sich die Unterarme, um dem Leistungsdruck ein Ventil geben zu können – denn heutzutage ist Abitur Pflicht!“ Spätestens hier stellt sich die Frage nach dem gymnasialen Selbstverständnis: Ist das Gymnasium eine Schulform für Kinder mit dem Potenzial, das Abitur zu schaffen (und einem pädagogischen Anspruch, die Schüler dann auch dorthin zu führen) – oder ist es eine Mini-Universität, die sich um die Befindlichkeiten der ihr anvertrauten Lernenden nicht zu kümmern braucht, weil Leistung allein deren Sache ist?
Chance vertan
Schade, hier haben die vier mutigen Lehrkräfte eine große Chance vertan. Denn natürlich haben Sie Recht, wenn Sie den „Akademisierungswahn“ von Eltern kritisch hinterfragen, der viele ungeeignete Schüler ans Gymnasium treibt, wenn Sie die zu knappen Personalressourcen etwa für Schulpsychologen beklagen oder ein Übermaß an fachfernen Inhalten wie “Ernährung” oder “Drogenprävention” feststellen. Diese Argumente verblassen leider hinter der allzu stark demonstrierten Unlust, sich um schwierige (aber begabte) Schüler zu kümmern.
Ein Verdienst allerdings bleibt: eine Diskussion um das moderne Gymnasium angestoßen zu haben. Was soll, was kann eine Schulform für eine Leistungselite in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts leisten – und welche Voraussetzungen braucht sie dafür? Eine solche Debatte ist in Deutschland, gerade auch in Zeiten der Inklusion, längst überfällig. Agentur für Bildungsjournalismus
Hier geht es zu dem offenen Brief der vier Lehrkräfte im “Münchener Merkur”.
