BERLIN. Nach einer neuen Studie ist Nachhilfeunterricht ein boomender Geschäftszweig in Deutschland, der die soziale Kluft an den Schulen vergrößern kann. Bildungsexperten suchen nach Auswegen – zum Beispiel über mehr gebundene Ganztagsschulen.
Der Bildungsforscher Wilfried Bos hat den Ausbau des Ganztagsschulangebots in Deutschland als Rezept gegen eine verstärkte Privatisierung von erfolgreicher Schulbildung empfohlen. So könne man verhindern, dass per Nachhilfe zunehmend der Geldbeutel der Eltern über Chancen von Kindern entscheide, sagte der Schulentwicklungsexperte auf Anfrage in Berlin. Bos forscht und lehrt an der Technischen Universität Dortmund und hat zahlreiche große Bildungsstudien verfasst.
Der aktuelle Nachhilfeboom sei «eigentlich eine Bankrotterklärung für die Schule. Denn deren Aufgabe ist es doch, den Kindern genug beizubringen, man sollte das also nicht privatisieren», sagte Bos. «In gut gemachten Ganztagsschulen, in denen nachmittags auch wirklich Lehrer sind, ist Nachhilfe allerdings gar nicht in diesem hohen Maße notwendig. In einer solchen gebundenen Ganztagsschule wäre – zumindest theoretisch – die Möglichkeit vorhanden, sich ausreichend um die Kinder zu kümmern.»
Bos reagierte damit auf eine neue Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, wonach mit kommerzieller Nachhilfe in Deutschland Milliarden Euro umgesetzt werden. Statt die soziale Kluft im Bildungssystem zu verringern, verbreitern außerschulische Förderstunden sie eher, so ein Fazit des Reports.
«Dieser Geschäftszweig kann auf jeden Fall die soziale Ungleichheit verstärken, weil Eltern mit niedrigem Einkommen Nachhilfe schwerer bezahlen können», sagte Bos. Dabei gehe es oft gar nicht um Nachhilfe bei gefährdeter Versetzung, sondern um bessere Zensuren für den Übergang von der Grundschule zum Gymnasium oder um ein Abitur mit einer 1 vor dem Komma. Dafür würden auch gute Schüler «gedrillt», so der Bildungsforscher.
Die Qualität der selbstbewusst für sich werbenden Institute ist nach seiuer Einschätzung sehr unterschiedlich. «Kommerzielle Nachhilfe ist ein großer Flickenteppich – da findet man alles von ausgebildeten Pädagogen über pensionierte Lehrer bis zu Studenten. Aber es gibt auch Institute, die nachweislich ihre Nachhilfeschüler innerhalb von neun Monaten um eine ganze Note verbessern. Die machen zumindest einen guten Job – obwohl der eigentlich ja überflüssig sein sollte», sagt Bos.
Jeder siebte Schüler geht zur Nachhilfe – Eltern machen (Leistungs-)Druck
Laut Studie schwanken die Expertenschätzungen zur Nachhilfequote in Deutschland zwischen 6 und 27 Prozent aller Schüler. Das öffentliche Gut Bildung müsse aus der «privatwirtschaftlichen Umklammerung» gelöst werden, damit eine erfolgreiche Schullaufbahn nicht in erster Linie von Ehrgeiz und Einkommen der Eltern abhänge, schreiben die Verfasser von der Universität Duisburg-Essen.
Die stellvertretende Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Elke Hannack, forderte am Dienstag mit Blick auf den wachsenden Nachhilfemarkt einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz. «Die Länder allein sind mit der Finanzierung eines solchen Anspruchs überfordert. Hier muss der Bund ein neues Programm auflegen”. dpa
BERLIN. Um schnittige Slogans sind Nachhilfeanbieter wie «Paukwerk», «Überflieger» oder «Besserwisser» selten verlegen. «5 weg oder Geld zurück!», so wirbt beispielsweise die Firma «Schülerhilfe», die nach eigenen Angaben an etwa 1100 Standorten in Deutschland und Österreich jährlich über 100.000 Jugendlichen auf die Sprünge hilft. Im wachsenden Markt für außerschulische Förderung ist Bescheidenheit fehl am Platze – immerhin gibt es in der «Bildungsrepublik» mit Noten-Tuning viel Geld zu verdienen, und die Konkurrenz ist groß.
So stellt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Studie fest: «Mit kommerzieller Nachhilfe werden in Deutschland Milliarden umgesetzt.» Das Comeback des Privatunterrichts wurde demnach «zuletzt befeuert durch den sogenannten PISA-Schock», der die Schwächen deutscher Schüler vor 15 Jahren drastisch offenlegte und viele Eltern alarmierte.
Nach einer Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung aus dem Vorjahr erhalten in Deutschland 1,2 Millionen Schüler Nachhilfe. Die Bildungsforscher um Prof. Klaus Klemm errechneten nach Befragung von etwa 4300 Müttern und Vätern, dass die Eltern 879 Millionen Euro in private Nachhilfestunden für ihre Kinder stecken – pro Jahr.
Eine offizielle Nachhilfestatistik gibt es zwar nicht, räumen die Verfasser des Böckler-Reports «Außerschulische Nachhilfe» jetzt ein. «Sicher ist dennoch: Seit den 1970-er Jahren hat die Zahl zugenommen. Je nach Studie und Art der Abgrenzung schwanken die aktuellen Angaben zwischen 6 und 27 Prozent aller Schüler.» Bei den in der Pubertät oft besonders lernunwilligen 15-Jährigen sei Nachhilfe am häufigsten – hier nehmen fast drei von zehn Schülern Privatförderung in Anspruch. dpa