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Gastbeitrag zur Inklusion: “Nicht eine Schule für alle, sondern für jedes Kind die beste!”

DÜSSELDORF. Michael Felten ist Lehrer, genauer: Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst, und er ist Lehrbeauftragter in der Lehrerausbildung. Darüber hinaus ist er Kolumnist in der Wochenzeitung “Die Zeit” und Buchautor – und er pointiert. Sein Buch “Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert” ist eine schonungslose Abrechnung mit der Praxis des gemeinsamen Unterrichts. Dabei ist Felten gar kein Gegner schulischer Inklusion. Aber er wagt auszusprechen, was viele ahnen und nicht wenige Lehrkräfte bitter erleben: So, wie es läuft, läuft es falsch. Wir veröffentlichen einen Auszug als Gastbeitrag.

“Zunehmend können Schulen ihren Schülern weniger gerecht werden, weder denen mit Entwicklungsproblemen noch den Hochbegabten.” Foto: George / flickr (CC BY-NC-SA 2.0)

Nicht eine Schule für alle, sondern für jedes Kind die beste!

In komplexen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen wirkt nicht immer gut, was angenehm klingt. Auch in Bildungsfragen sollten wir uns nicht länger von Wohlfühlparolen und Hochglanzfotos blenden lassen. Beispiel schulische Inklusion: Unser ohnehin arg labiles Bildungssystem gerät in einigen Bundesländern über kurz oder lang in eine grandiose Schieflage, wenn weiterhin Sparversionen und Radikalvarianten mit der Brechstange durchgesetzt werden.

Keiner soll später sagen, er habe nichts davon gewusst – schließlich vollzieht sich das Brisante unter unser aller Augen. Immer öfter werden normal oder hoch begabte Kinder zusammen mit leicht oder auch schwer behinderten in einer Klasse unterrichtet, ohne dass die dafür nötigen Ressourcen und Kompetenzen vorhanden wären – und ohne dass der Sinn dieser Maßnahme grundsätzlich erwiesen wäre. Die Förderschulen, die diesen Schülern bisher eine besonders auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Bildungsmöglichkeit boten – und um die man Deutschland weltweit beneidet -, hofft man schrittweise einsparen zu können.

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So kann Inklusion funktionieren: Stets eine Lehrkraft, ein Sonderpädagoge und ein Helfer im Unterricht – aber wo gibt’s das?

Ich hege durchaus große Sympathie für eine schulische Integration von Kindern, die besonderer Unterstützung bedürfen – wenn sie denn bei diesen Kindern sinnvoll ist, und sofern die personellen und sächlichen Bedingungen stimmen. Gleichwohl müssen die Probleme der derzeitigen Inklusionsentwicklung offen angesprochen werden – sonst fliegt dieses angebliche Menschenrechte-Projekt der Politik schon bald gehörig um die Ohren. Dabei geht es nicht nur um Unterfinanzierung und Minderqualifizierung, sondern um auch Irrtümer und Grenzen des Konzepts “Gemeinsames Lernen”. Eine Fülle wichtiger Praxiserfahrungen und Forschungsbefunde ist in der Inklusionsdebatte bislang marginalisiert worden.

Eigentlich haben unsere Schule schon genug ungelöste Probleme …

Die von Schulabgängern erreichten Kompetenzen gelten zunehmend als desolat. Kein Wunder: Vielerorts lernen Schüler zu oberflächlich, bundesweit ist das Phänomen der „Risikoschüler“ ungelöst, eine systematische Qualitätsentwicklung des Regelunterrichts hat gerade erst begonnen. Ist da eine forcierte oder gar totale Ausweitung der Heterogenität in den Klassen überhaupt verantwortbar?

Bei der Inklusion läuft zusätzlich vieles schief!

Das vermeintliche pädagogische Paradies Inklusion entwickelt sich tatsächlich zur Plage für alle Beteiligten:

Ergebnis: Immer mehr Schüler erfahren statt bester Bildung nur noch „wohlwollende Vernachlässigung“ (Bernd Ahrbeck). Statt “Kein Kind zurücklassen!” (Wahlparole NRW) werden Verhältnisse geschaffen, die gerade die Schwächsten benachteiligen – bildungsfern sozialisierte ebenso wie behinderte Kinder.

Solche Inklusion kann gar nicht funktionieren!

Die Befunde empirischer Studien (BiLieF, RIM u.a.) zu den Wirkungen inklusiver Beschulung sind für den Grundschulbereich ambivalent, in der Sekundarstufe besteht gar ein “Forschungsdefizit” (Birgit Lütje-Klose) – dabei stellen sich in dieser Altersphase doch zusätzliche Schwierigkeiten.  Auf einer Metaebene wird jedenfalls eine “konzeptionelle Suchbewegung” (Rüdiger Heimlich) attestiert.

Hochwertig ausgestattete Integration ist in der Primarstufe für manche Behinderungsformen durchaus sinnvoll und möglich; Inklusion als flächendeckende Billigversion für alle Förderbedarfe erscheint indes zunehmend zweifelhaft, ja riskant. Prinzipiell werden seitens der Inklusionsbefürworter die Tiefe von Entwicklungsstörungen und der Bedarf an Schonraum erheblich unterschätzt, dagegen die Möglichkeiten individualisierten, selbstgesteuerten Lernens grandios überschätzt.

Inklusion – für viele ein Trojanisches Pferd …

Als Motor der etwa in NRW zu beobachtenden radikalen, übereilten und unterfinanzierten Inklusionsentwicklung müssen Motive angenommen werden, die man nicht anders als kindeswohlfern bezeichnen kann. Die einen erhoffen sich Einsparpotentiale im Bildungssektor, andere missbrauchen die Inklusion vor allem als Türöffner für eine doch noch zu realisierende Einheitsschule; diesen gilt Inklusion als generelles Egalitätsprojekt im kalten Kapitalismus, jene vertuschen nur noch die Blamage eines administrativen Scheiterns. Solcher Unbildungspolitik gehört in die Speichen gegriffen – und dabei sind wir alle gefragt – Lehrer, Eltern, Bürger …

Inklusion mit Augenmaß: Das dual-inklusive System wertschätzen und optimieren …

Die UN-BRK fordert gerade nicht die Abschaffung unserer hochspezialisierten Förderinstitutionen, sondern verpflichtet primär zur Orientierung am Kindeswohl – unter Wahrung der elterlichen Verantwortung. Deshalb steht keineswegs an, das Schulsystem strukturell zu revolutionieren, sondern es “dual-inklusiv” (Otto Speck) zu optimieren. Wir müssen um eine Inklusion mit Augenmaß ringen: um die ausgewogene und dynamische Kooperation von integrationsoffenen Regelschulen und ergänzenden Förderschulen. Die Devise kann nur sein: So viel hochqualitative Integration wie sinnvoll, so viel durchlässige Separation wie nötig! Jedes Kind soll an dem für es sinnvollsten Ort lernen können – und dies kann durchaus auch, wie weltweit üblich, zeitweise eine Spezialschule oder Separatklasse sein.

Michael Felten. Foto: privat

Michael Felten: Die Inklusionsfalle. Wie eine gut gemeinte Idee unser Bildungssystem ruiniert. Gütersloher Verlagshaus 2017/176 Seiten/17,99€ (auch als e-book)

Hier lässt sich das Buch bestellen.

Wir brauchen jetzt eine breite Debatte über die Inklusion – sonst droht ihr das Schicksal von G8

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