BERLIN. Der Ganztag boomt. Waren es vor 15 Jahren lediglich zehn Prozent der Schüler, die eine Ganztagsschule besuchten, sind es heute schon fast 40 Prozent – Tendenz weiter steigend. Für den Ausbau werden große Anstrengungen unternommen, doch Bildungsforscher sind ernüchtert: Viele Ganztagsschulen nutzen die pädagogischen Potenziale nicht. Vier Stiftungen, die sich für bessere Bildung engagieren, haben deshalb umfassende Empfehlungen erarbeitet, was Politik und Verwaltung ändern sollten. News4teachers berichtete darüber. In einem Gastbeitrag begründet Petra Strähle, Projektmanagerin Bildung der Stiftung Mercator, warum sich die Stiftungen so für den Ganztag engagieren.
Von Petra Strähle
Seit vielen Jahren wird das Thema Ganztag kontrovers diskutiert. Politik und Verwaltung sehen die Ganztagsschule als große Chance, Deutschland bildungsgerechter zu machen, sind aber ernüchtert davon, dass die wissenschaftlichen Daten der großen Ganztagsschul-Studie StEG nicht nachweisen, dass Ganztagsschüler leistungsstärker sind oder sich die Schere herkunftsbedingter Ungleichheit schließt. Eltern sind zwiegespalten: die Nachfrage nach Ganztagsplätzen ist höher als die derzeitigen Kapazitäten – ein Grund dafür wird sein, dass sich Eltern seit Einführung des KiTa-Anspruchs an Betreuungszeiten gewöhnt haben, die beiden Eltern eine Berufstätigkeit ermöglichen. Gleichzeitig gibt es vor allem bei bürgerlichen Eltern Misstrauen und Widerstand gegenüber Ganztagsmodellen, die ihnen nicht die tägliche Wahlfreiheit darüber lassen, wie lange ihr Kind über die unbedingt notwendige Unterrichtszeit hinaus in der Schule verbringt.
An dieser Stelle möchte ich einschieben, dass dieses Argument gegen Verbindlichkeit mit Blick auf die Kita-Nutzung verwundert: Dieselben Eltern haben kein Problem damit, dass Kinder faktisch täglich deutlich länger die Kita besuchen als zwingend – zum Beispiel aufgrund einer Berufstätigkeit – notwendig, wenn diese sich dort wohlfühlen. Was ist an Schule so anders? Ein Knackpunkt ist aus meiner Sicht, dass Eltern oft nicht überzeugt sind, dass sich ihr Kind auch in der Schule für acht Stunden oder länger wohl und aufgehoben fühlt, gefördert wird und seinen Neigungen nachgehen kann.
Die Rückmeldung zahlreicher Ganztagsschulen aus unseren Projekten wie „LiGa – Lernen im Ganztag“, „Ganz In“, „Lernpotenziale“ oder „Kreativpotenziale“ bestätigt: Sobald die Qualität stimmt, bleiben die Schüler den ganzen Tag, auch die der sehr bildungs- und förderbewussten Eltern. Dies führt übrigens zu dem Phänomen, dass auch offene, das heißt freiwillige, Ganztagsschulen mit guter Qualität teils so hohe Teilnahmequoten haben, dass sie den Tag rhythmisieren und Unterrichts-, Angebots-, Lern- und Pausenzeiten über den ganzen Tag verteilen können. Das zeigt praktisch: Die Umsetzung von Qualität hängt nicht an dem Label „offen“ oder „gebunden“. Dies ist auch eine zentrale Erkenntnis der Studie „Mehr Schule wagen!“, die stattdessen ein pädagogisch motiviertes Modell mit rhythmisierten Kernzeiten und freiwilligen Angebotszeiten vorschlägt, die jede Schule den örtlichen Bedarfen anpassen kann.
Auch Lehrer, so meine Wahrnehmung, sehen den Ganztag zwiegespalten. Ein guter Ganztag erfordert, dass Lehrer mehr Arbeitszeit in der Schule verbringen. Für diejenigen, denen an ihrem Beruf die halbtätige Anwesenheitszeit am Vormittag wichtig ist, bringt der Ganztag also unerwünschte Änderungen mit sich. Wobei ich argumentieren würde: Die Verteilung der Anwesenheitszeit im Ganztag kann auch eine erwünschte Flexibilisierung bedeuten – vielleicht sind Arbeitszeiten dann nicht an jedem Tag zwingend von 8 bis 13 Uhr, sondern auch einmal von 11 bis 16 Uhr, was Pendlern oder Langschläfern durchaus entgegenkommen kann. Dass Lehrer ihren Arbeitsplatz ungern an die Schule verlagern, hat aber auch damit zu tun, dass dort oft keine Räume für konzentrierte Arbeit, Rückzug und Austausch vorhanden sind. Es sind also vor allem die vorhandenen Rahmenbedingungen, die Lehrer gegen eine längere Anwesenheit in der Schule argumentieren lässt. Auch die Studie „Mehr Schule wagen!“ hält fest, dass für pädagogische Qualität eine ganztagsspezifische räumliche Ausstattung zentral ist.
Zunehmend heterogene Schülerschaft
Jenseits der Argumente rund um die geringe Anwesenheitspflicht in den Schulen, sehen die meisten Lehrer jedoch – aus ihrer alltäglichen Praxis heraus – sehr wohl das Potenzial und die Chancen des Ganztags. Sie sehen, dass sich die Schule und das Lernen mit einer zunehmend heterogenen Schülerschaft künftig sowieso verändern müssen und dass der Ganztag gute Chancen bietet, um eine Individualisierung des Lernens erfolgreich umzusetzen.
Qualitätsmerkmale einer guten Ganztagsschule sind laut der Studie „Mehr Schule wagen!“ unter anderem: Abschaffung von Hausaufgaben und stattdessen Einführung individualisierter, von Fachkräften betreuter Lernzeiten sowie die Gestaltung der Mittagspause als Zeit für soziales Beisammensein, Entspannung und Erholung. Schüler sollen so lernen können, wie es ihren Neigungen entspricht, um damit auch ihre Potenziale besser entfalten und einbringen zu können. Durch eine verstärkte Vernetzung mit der Welt außerhalb des Schulgebäudes, sollen sie des Weiteren eine bessere Orientierung für ihren weiteren Lebensweg erhalten. Ein Schüler kann besser beurteilen, ob er einmal in einem Theater oder in einem Unternehmen arbeiten möchte, wenn er diese Berufe und Welten bereits früh kennenlernt.
Doch nicht nur die Schüler können von einer Individualisierung im Ganztag profitieren, sondern auch die Lehrer. Sie lernen ihre Schüler besser und von unterschiedlichen Seiten kennen und können so pädagogisch besser ansetzen und individueller fördern. Auch arbeiten die Lehrer dann verstärkt in Teams, indem Materialien, Projekte und Angebote gemeinsam entwickelt werden. Vielen Lehrern macht ihr Beruf mehr Spaß, wenn sie nicht Einzelkämpfer hinter verschlossenen Klassenzimmertüren sind und zudem Entlastung dadurch erfahren, dass auch Erzieher, Sonderpädagogen, Sozialpädagogen oder Psychologen ihren Schülern „Lern-, Spiel- und Erfahrungsmöglichkeiten“ anbieten. Die Studie „Mehr Schule wagen!“ hält fest: „Somit entwickelt sich der Ganztag nicht nur für Kinder und Jugendliche sondern auch für Lehrkräfte zum Lebensraum“.
Es geht um das “Wie”
Bei allem Für und Wider ist zu beachten, dass die Realität diese Diskussion längst überholt hat: Inzwischen sind 65 Prozent der Schulen Ganztagsschulen, 40 Prozent der Schüler nehmen Ganztagsangebote wahr und in allen Bundesländern geht der Ausbau weiter. Heute kann es also nicht mehr um das „Ob“ des Ganztags gehen, sondern nur um das „Wie“, das heißt um eine pädagogische Gestaltung, die die Potenziale des „Mehr an Zeit“ hebt.
Die Diskussion um Qualität im Ganztag muss dringend geführt werden, denn in der Breite haben Ganztagsschulen noch keine gute Qualität. Grund dafür ist ein Vakuum an pädagogischer Konzeption, das im Zuge des rasanten quantitativen Ausbaus entstanden ist: Der Ausbau von Ganztagsschulen war zwischen 2003 und 2009 einem großen Infrastrukturprogramm des Bundes zu verdanken (IZBB). Die Entwicklung war dabei in den vergangenen Jahren rasant. So gab es 2003 deutschlandweit 5.723 Ganztagsschulen, was einem Anteil von 19 Prozent der deutschen Schulen ausmacht. 2009 hingegen waren es dank des Infrastrukturprogramms mit 13.321 Schulen bereits mehr als doppelt so viele Schulen. Ihr Anteil machte 46,8 Prozent der deutschen Schulen aus. Der Bund konnte jedoch nur in die Infrastruktur investieren, da die inhaltliche Gestaltung von Schule bei den Ländern liegt
Nachdem die ersten STEG-Ergebnisse nicht den erwünschten Erfolg zeigten, befassten sich die Bundesländer mit der Qualitätsfrage und nahmen mehr oder weniger inhaltlich und ausführlich Aspekte von Ganztag in die Referenzrahmen für Schulqualität auf. Dadurch ist deutschlandweit eine große Vielfalt von Finanzierungsmodellen und Strukturbeschreibungen entstanden, die jedoch nur teilweise Aspekte pädagogischer Qualität beinhalten.
Die Studie „Mehr Schule wagen!“ und das Papier der Stiftungskooperation aus Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Stiftung Mercator und Vodafone Stifung bietet ein Zielmodell guten Ganztags, das zentrale Qualitätsmerkmale beschreibt und dafür förderliche Rahmenbedingungen direkt auf diese bezieht. Eine Motivation für uns als Stiftung Mercator war, dass sich aus den Praxisprojekten immer wieder ein Bedarf nach einer solchen Orientierung aller Akteure zeigte. Etwa in der Entwicklung des Programms „LiGa – Lernen im Ganztag“, die ich über zwei Jahre begleitet habe, stellten Partner aus Schulen, Verwaltung und Politik immer wieder die Frage: Aber was ist denn das Ziel unserer Qualitätsentwicklung? Woran kann man eine gute Ganztagsschule erkennen? Welche Rahmenbedingungen fördern tatsächlich die Qualität – und welche Investitionen laufen womöglich ins Leere?
Die Stiftung Mercator und die anderen beteiligten Stiftungen erhoffen sich, dass die Studie und das Papier „Mehr Schule wagen!“ eine Diskussion über Merkmale anstößt, die in einer Schule mindestens erfüllt sein müssen, damit es eine gute Ganztagsschule ist. Wenn die Rahmenbedingungen bezogen auf diese Qualitätsmerkmale verbessert werden, müssen Schulen nicht mehr mit außergewöhnlichem Einsatz und Engagement aufwarten, um sich auf den Entwicklungsweg zu machen und eine gute Qualität zu erreichen, sondern schaffen dies im Zuge eines normalen Schulentwicklungsprozesses. Die Stiftungen planen, durch die Förderung von Projekten und Programmen, den Qualitätsprozess zu unterstützen. Am Ende steht in einigen Jahren hoffentlich ein Ganztag, der seine Potenziale ausschöpft und allen Schülern einen Raum gibt, in dem sie bestmöglich leben und lernen können.
Hier lässt sich die Studie “Mehr Schule wagen!” herunterladen.
Dr. Petra Strähle ist seit November 2013 Projektmanagerin bei der Stiftung Mercator im Handlungsfeld „Mehr Qualität im Ganztag”. Weitere Themenschwerpunkte sind Schulentwicklung, Steuerung im Bildungswesen, Sprachbildung und Transfer. Davor war sie fünf Jahre Wissenschaftliche Koordinatorin der International Research School “Education and Capabilities”. Im Anschluss an ihr Studium der Sprachwissenschaften, Anglistik und öffentliches Recht in Freiburg und Canterbury promovierte sie zum Thema frühkindlichem Spracherwerb.
