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Neurogenetiker finden Gene für Lese-Rechtschreibschwäche und wollen Frühtest entwickeln

Eine LRS-Diagnose per Speichelprobe könnte vielen Schülern einen Leidenweg ersparen und bietet geschäftliche Möglichkeiten. Odontoped-Ata / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Eine LRS-Diagnose per Speichelprobe könnte vielen Schülern einen Leidenweg ersparen und bietet geschäftliche Möglichkeiten. Odontoped-Ata / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

LEIPZIG. Marktforschung der besonderen Art: In einem fünfjährigen Forschungsprojekt zur Lese-Rechtschreibschwäche ist es Leipziger Wissenschaftlern gelungen, einzelne DNA-Abschnitte als Marker-Gene für die Störung zu identifizieren und sie zum Patent anzumelden. Nun erhoffen sich die Forscher einen Test, der die Diagnose per EEG und Speichelprobe ermöglicht.

Wissenschaftlern ist es gelungen, die Grundlagen für einen Test zu legen, der anhand von Hirnaktivität und Genanalysen vorhersagen kann, ob ein Kind von einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) betroffen sein wird. Zum Abschluss eines fünfjährigen gemeinsamen Forschungsprojekts legten das Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) und das Fraunhofer-Instituts für Zelltherapie und Immunologie (IZI) in Leipzig jetzt die Ergebnisse vor.

Eine LRS-Diagnose per Speichelprobe könnte vielen Schülern einen Leidenweg ersparen und bietet geschäftliche Möglichkeiten. Odontoped-Ata / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Wörter dehnen sich, zerbrechen, Buchstaben sind unerkennbar. Jedes 20. Kind, also mindestens rund ein Schüler pro Klasse verzweifelt Tag für Tag, wenn es darum geht, Wörter und Sätze zu schreiben oder zu lesen. Und das bei ansonsten normaler oder hoher allgemeiner Intelligenz. Es leidet an der Lese-Rechtschreibstörung (LRS), einer angeborenen Veränderung im Gehirn. Für die betroffenen Kinder bedeutet sie vor allem oft jahrelangen schulischen Misserfolg – meist ohne, dass die wahre Ursache erkannt wird.

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Um den Kindern dieses Leid zu ersparen, haben die Leipziger Wissenschaftler in den vergangenen fünf Jahre daran gearbeitet, die Grundlagen für einen LRS-Frühtest zu legen. Durch ihn soll sich anhand von Hirnstrukturen und Genen rechtzeitig erkennen lassen, ob ein Kind von der LRS betroffen sein wird oder nicht.

„Wir wissen heute, dass zwei entscheidende Veränderungen in der Hirnstruktur der Kinder zu dieser Schwäche führen. Zum einen ist bei ihnen die Großhirnrinde etwas dünner, vor allem in einer bestimmten Region in der linken Hirnhälfte“, erklärt Jens Brauer, Neurowissenschaftler am MPI CBS. „Zum anderen sind bei ihnen die Faserverbindungen zwischen den entscheidenden Spracharealen weniger ausgeprägt, die als eine Art Datenautobahnen die Informationen zwischen diesen Hirnbereichen transportieren“, ergänzt Linguist Michael Skeide.

Eine vielversprechende Möglichkeit, um diese Veränderungen in der Großhirnrinde zu erkennen, bietet nach Ansicht der Forscher die Elektroenzephalografie (EEG). Dabei werden dem Kind eine lange Abfolge gleicher Reize vorgespielt, etwa eine Kette der immer gleichen Silbe oder Töne, die nur hin und wieder durch einen anderen Laut oder Ton unterbrochen wird. Fällt es Kindern leicht, diese Unregelmäßigkeiten zu erkennen und zeigen ihre Hirnaktivitäten an diesen Stellen die charakteristischen Ausschläge, sind meist auch ihre Schriftfähigkeiten gut ausgeprägt. Ist das nicht der Fall, ist das ein wichtiges Indiz für eine drohende LRS. „Mithilfe dieser Untersuchungen können wir anhand der neuronalen Reaktion erkennen, wenn die sprachrelevanten Informationen anders als normal verarbeitet werden und so die Betroffenen identifizieren – und das bereits im Kindergartenalter“, so Neurowissenschaftler Brauer.

Dennoch sei die reine Prognose anhand des EEG nicht aussagekräftig genug. Daher wollen die Wissenschaftler zusätzlich die Aussagekraft der Gene nutzen. Denn die LRS ist zu 50 bis 70 Prozent genetisch bedingt und könnte so mit einem einfachen Speicheltest noch genauer diagnostiziert werden. Als Voraussetzung dafür gelang es den Wissenschaftlern vom Fraunhofer IZI eine umfassende Liste von DNA-Variationen zu identifizieren, die bei deutschen Legasthenikern an der Störung beteiligt sind. „Wir konnten beispielsweise das erste Mal nachweisen, dass das lange verdächtigte Gen KIAA0319 tatsächlich einen Einfluss darauf hat, wie wir gehörte Sprache frühzeitig verarbeiten, indem es die Lautverarbeitung im Hirnstamm beeinflusst“, erklärt Arndt Wilcke, Neurogenetiker am IZI.

Schließlich haben Wilcke und sein Team aus 25 für die LRS besonders entscheidenden DNA-Varianten einen genetischen Risikoscore entwickelt, der die negativ veränderten Genvarianten kombiniert. Je mehr Genvarianten bei einem Kind gefunden werden, die mit der LRS in Zusammenhang stehen, desto höher fällt sein Score aus und desto höher ist bei ihm die Gefahr, von der Störung betroffen zu sein. Einige dieser DNA-Abschnitte konnten die Neurogenetiker bereits als sogenannte Marker-Gene, also Signale für eine drohende LRS, zum Patent anmelden. „Für einige davon konnten wir sogar nachweisen, dass sie in direktem Zusammenhang mit den Ergebnissen aus den Silben-Aufgaben der EEG-Untersuchungen stehen. Trägt ein Kind diese Varianten in sich, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihm die Aufgabe mit den Unregelmäßigkeiten in der Silben-Kette nicht gelingt.“

„Indem wir die Indizien aus Gehirn und Genetik kombinieren, hoffen wir zukünftig auf eine noch höhere Trefferquote. Bis es soweit ist, müssen beide Einzelverfahren jedoch noch verfeinert und in einer unabhängigen Stichprobe überprüft werden. Dann wird sich zeigen, ob unsere bisherigen Ergebnisse nochmals bestätigt und in einem Frühtest angewandt werden können“, so Wilcke. „Wir sind jedoch zuversichtlich, hier in den nächsten Jahren die entscheidenden Fortschritte zu machen, sodass ein einfaches, präzises Diagnoseverfahren per EEG und Speichelprobe in greifbare Nähe rückt“, fügt er hinzu. Ihr Ziel sei es daher, dieses in den kommenden Jahren zur Marktreife zu führen.

Dass ein solcher Frühtest auf positive Resonanz stoßen würde, zeigen auch die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage unter Eltern von Kindern im Alter zwischen drei und sieben Jahren, also der späteren Zielgruppe. Darin bewerteten fast 90 Prozent der Befragten einen solchen Test als sinnvoll, mehr als 80 Prozent würden ihr eigenes Kind damit untersuchen lassen – mehr als die Hälfte davon sogar, wenn die Krankenkasse die Kosten nicht übernehmen würde. (zab, pm)

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