BERLIN. Nachmittagsbetreuung an Grundschulen? Ist vielerorts noch immer Mangelware. Aus einer Studie geht hervor, dass bundesweit für mindestens 280.000 Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren ein Platz an einer Ganztagsgrundschule benötigt wird. Bundesfamilienministerin Barley (SPD) fordert einen Rechtsanspruch für die Eltern. Allerdings: Von einer Qualitätsverbesserung des bestehenden Angebots ist kaum die Rede – dabei wäre auch die dringend notwendig, wie der renommierte Dortmunder Bildungsforscher Prof. Wilfried Bos im News4teachers-Interview erklärt.
Gut vier von zehn Grundschulkindern (44 Prozent) haben einer neuen Studie zufolge derzeit kein Betreuungsangebot nach dem Unterricht, obwohl viele Eltern dringenden Bedarf anmelden. Zudem halten 18 Prozent der Väter und Mütter, die eine solche Betreuung für ihre Kinder haben, den Umfang für nicht ausreichend. Dies geht aus einer am Montag bekannt gewordenen Prognos-Studie für das Familienministerium hervor. Insgesamt wird der Bedarf auf 280.000 Plätze allein für Kinder beziffert, die bisher kein Angebot haben. Für 275.000 weitere Kinder werde ein erweitertes Angebot benötigt.
“Wichtig für Chancengleichheit”
Nach Ansicht von Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) sollte betroffenen Eltern für bessere Betreuungsmöglichkeiten juristisch und politisch der Rücken gestärkt werden: «Nach dem Rechtsanspruch für Kinder im Kita-Alter müssen wir jetzt den Rechtsanspruch für Kinder im Grundschulalter einführen», erklärte sie am Montag in Berlin. «Gute ganztägige Angebote für Kinder sind wichtig für ein gutes Aufwachsen von Kindern, Chancengleichheit und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf der Eltern.»
Wohlgemerkt: Gute Angebote. Dass es daran allerdings in der Fläche hapert, dazu lässt sich in der Studie nichts finden. „Der Ganztag, so wie er sich in der Praxis meistens darstellt, hat auf die Leistung keinen Effekt“, sagt der der Bildungsforscher Prof. Wilfried Bos von Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund. Denn bei den Angeboten handele es sich zumeist lediglich um eine Nachmittagsbetreuung. „Damit ist gewährleistet, dass die Kinder gut aufgehoben sind, während die Eltern arbeiten. Mehr aber meist auch nicht“, erklärt Bos. Für eine Förderung, die sich auf die schulischen Leistungen auswirken würde, seien vor allem Lehrkräfte notwendig – und ein pädagogisches Konzept, das eine Rhythmisierung des Schultags zwischen Konzentrations- und Entspannungsphasen vorsehe. (Hier geht es zum vollständigen Interview mit Bos.)
Gleichwohl sagen laut Studie inzwischen 65 Prozent aller Eltern und sogar 76 Prozent der Eltern mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren, dass Familienpolitik einen Schwerpunkt auf den Ausbau der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder legen sollte. Barley betonte, sie wolle «die konkrete Ausgestaltung eines Rechtsanspruchs mit den Ländern und anderen Akteuren diskutieren. Dabei muss auch über die notwendige finanzielle Beteiligung des Bundes geredet werden.»
Nach einer Prognos-Sonderauswertung des Mikrozensus 2015 arbeiten 96.000 Mütter mit Kindern zwischen sechs und zehn Jahren nur deshalb in Teilzeit, weil ein Betreuungsangebot nicht verfügbar oder nicht bezahlbar ist. Barley sagte: «Wenn beide Elternteile arbeiten, ist es dann meistens wieder die Frau, die beruflich zurücksteckt und sich nachmittags um die Hausaufgaben kümmert».
Laut Ministerium versprechen sich die meisten Eltern (83 Prozent) und Lehrer (74 Prozent) bessere Chancen für benachteiligte Kinder durch ganztägige Angebote – vor allem durch eine Hausaufgabenbetreuung. Eine aktuelle Rechtsexpertise von Prof. Johannes Münder von der Technischen Universität Berlin zeige, dass der Bund einen Rechtsanspruch für Kinder im Grundschulalter umsetzen könne.
«Die Rahmenbedingungen für die Förderung und Betreuung sind in Deutschland sehr unterschiedlich, da bundesweit keine rechtlich verbindliche Mindestregelung besteht», zitiert das Barley-Ministerium den Sozialrechtler. «Wenn der politische Wille existiert, ist die ganztägige Betreuung und Förderung von Grundschulkindern durch einen Rechtsanspruch für die Kinder im Sozialgesetzbuch VIII – Kinder-Jugendhilfe zügig realisierbar.» Dabei müssten «die schulischen Angebote und die Betreuung außerhalb der Unterrichtszeit im Interesse der Kinder und Eltern eng verbunden werden». Agentur für Bildungsjournalismus / mit Material der dpa
Zitate aus der Prognos-Studie im Auftrag des BMBF:
„Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder wird vor allem in Ganztagsschulen und Horten angeboten. 16 % aller Grundschulkinder besuchten 2015 einen Hort in Trägerschaft der Kinder- und Jugendhilfe. Die Nutzung hat sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdoppelt. In den ostdeutschen Ländern sind Horte traditionell weiter verbreitet als im Westen. Ein Drittel aller Grundschulkinder besucht eine Ganztagsschule. Die Nutzung hat sich seit 2006 nahezu verdreifacht. Die größten Zuwächse gab es in den westdeutschen Bundesländern. Dabei finden sich unterschiedliche Konzepte: Vollgebundene Modelle sind verpflichtend für alle Schülerinnen und Schüler, teilgebundene Modelle sind nur für einige Klassen verpflichtend, bei offenen Modellen entscheiden die Eltern über die Teilnahme.“
„Mit der Einschulung entsteht in vielen Fällen eine Betreuungslücke, wenn der Unterricht am Mittag endet. Während der Großteil der Kinder vor der Einschulung einen erweiterten Halbtags- oder Ganztagsbetreuungsplatz hat, haben laut einer repräsentativen Elternbefragung des Deutschen Jugendinstituts ca. 44 % aller Grundschulkinder kein Betreuungsangebot nach dem Unterricht. Für knapp ein Viertel dieser Kinder besteht nach Angaben der Eltern ein Betreuungsbedarf. Studien zeigen, dass Standards für die Ganztagsbetreuung nicht eingehalten werden. So erfüllen 12 % der Ganztagsgrundschulen nicht die Mindestkriterien der Kultusministerkonferenz; sie sind keine 3 Tage pro Woche mindestens 7 Stunden geöffnet.“
„Auch von den Eltern, deren Grundschulkinder zurzeit schon nach dem Unterricht betreut werden, geben 18 % an, dass das Angebot nicht ausreichend ist. Der zusätzliche Bedarf an schulergänzenden Angeboten im Grundschulbereich lässt sich in seiner Größenordnung abschätzen. Benötigt werden rund 280.000 Plätze ausschließlich für die Kinder, die bisher kein Angebot haben. Außerdem kann angenommen werden, dass für weitere 275.000 Kinder, die bereits eine nachschulische Betreuung haben, ein zusätzlicher Betreuungsbedarf besteht.“
„Ganztagsangebote können helfen, Gestaltungsspielräume für das Familienleben mit Grundschulkindern zu schaffen. Elternbefragungen zeigen die Herausforderungen konkret: Die Hausaufgabenbetreuung nimmt viel Zeit in Anspruch. In fast 90 % der Familien unterstützt mindestens ein Elternteil die Kinder regelmäßig bei den Hausaufgaben. Durch die Integration der individuellen Übungs- und Lernzeiten der Kinder in den Ganztag werden die Eltern entlastet. Während 57 % der Eltern mit einem Kind an einer Halbtagsschule sagen, dass sie vieles von dem leisten müssen, was eigentlich Aufgabe der Schule ist, sind es bei den Ganztagsschul-Eltern nur 47 %. 37 % der Eltern, deren jüngstes Kind zwischen 6 und 13 Jahre alt ist, sagen, es wäre eine große Hilfe für sie, wenn sie sich weniger darum kümmern müssten, wie die Kinder zu den Nachmittagsaktivitäten kommen.“
„Ein Großteil des Zeitaufwandes wird durch die Mütterabgedeckt. Aus Zeitbudget-Untersuchungen ist bekannt, dass Mütter im Vergleich zu Vätern das 1,5-Fache an Zeit in die Betreuung der Kinder investieren. Das führt häufig dazu, dass anstelle der gewünschten partnerschaftlichen Aufgabenteilung traditionelle Rollen beibehalten werden.“
