„Wir brauchen Qualitätsstandards – und mehr Geld“: N4t-Interview mit dem Chef des Ganztagsschulverbands

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BERLIN. Die Ganztagsschule ist in Deutschland angekommen. Waren es vor 15 Jahren erst zehn Prozent der Schüler, die eine Ganztagsschule besuchten, sind es heute schon fast 40 Prozent – Tendenz weiter steigend. Gleichwohl gibt es Probleme. Beklagt wird mitunter die Qualität des Angebots. „Unsere Forderung an die Politik ist eindeutig und klar: Erstens brauchen wir sind bundesweit geltende Qualitätsstandards. Zweitens brauchen wir mehr Investitionen in Bildung“, sagt Rolf Richter, Bundesvorsitzender des Ganztagsschulverbandes. Wir sprachen mit ihm.

"Es kommt nicht auf das Etikett an": Rolf Richter, Bundesvorsitzender des Ganztagsschulverbands. Foto: privat
„Es kommt nicht auf das Etikett an“: Rolf Richter, Bundesvorsitzender des Ganztagsschulverbands. Foto: privat

News4teachers: Der Ausbau der Ganztagsschulen ist in Deutschland seit 2003 stark vorangetrieben worden. Wenn Sie diese Entwicklung betrachten, welche Bilanz ziehen Sie?

Richter: Was sich seit 2002 in der schulischen Landschaft bundesweit verändert hat, ist ein atemberaubender Ausbau gewesen, der sich seit 2013 – mit dem Auslaufen des Investitionsprogramms Zukunft Bildung und Begabung (IZBB) – verlangsamt hat. Die Bertelsmann-Stiftung sagt, dass wir frühestens 2030 so weit sein könnten, dass man überall in Deutschland eine Ganztagsschule in erreichbarer Nähe findet, wenn die Politik nicht noch einmal Gas gibt.

News4teachers: Würden Sie denn sagen, dass das IZBB bis 2013 ein Erfolg war?

Richter: Das IZBB hatte zwei wesentliche Ziele: Bildung und Betreuung sollten verbessert werden. Der Politik ist es gelungen, die Betreuungsmöglichkeiten für Kinder im Schulalter entscheidend zu verbessern. Die Bildung wurde jedoch vernachlässigt. Das zeigen die Ergebnisse der das IZBB begleitenden Forschung  (StEG) überaus deutlich. Wir als Verband charakterisieren den Sachstand so: Wir stehen in der Gefahr eine Betreuungsrepublik zu werden und das von der Kanzlerin geprägte Wort von der Bildungsrepublik wird somit bedeutungslos.

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News4teachers: Sie sagten mal, eine Ganztagsschule sollte mehr sein als eine Halbtagsschule mit Mittagessen und einem Nachmittagsprogramm. Wie stellen Sie sich eine gute Ganztagsschule vor, welche Ansprüche muss sie erfüllen?

Richter: Eine gute Ganztagsschule muss den Unterricht organisatorisch und inhaltlich verändern. Sie muss in ihren Kernelementen verbindlich sein, damit die Schülerinnen und Schüler in den Genuss der elementaren, die Bildungschancen verbessernden Teile der Ganztagsschule kommen und nicht aus welchen Ursachen auch immer (Unkenntnis, Armut, Migration und so weiter) gar nicht erst angemeldet werden. Was sind die Kernelemente des guten Ganztags? Es sind in Kürze: Rhythmisierung, Veränderung der Lernkultur, zusätzliche und erweiterte Lern- und Übungsangebote sowohl individuell als gruppenbezogen, inhaltliche und personelle Verzahnung von Unterricht und außerunterrichtlichen Angeboten, erweitertes Raum und Ausstattungsangebot, zusätzliches Personal sowie Kooperationen im Sozialraum.

News4teachers: Wenn Sie sich für einen Rechtsanspruch auf Ganztag einsetzen, welche Art von Ganztag haben Sie dabei im Sinn – den offenen oder den gebundenen Ganztag?

Richter: Es kommt nicht auf das Etikett an, das Schulen in offene, teilgebundene und gebundene Ganztagsschulen einteilt. Sondern es kommt darauf an, dass wesentliche Teile der guten Ganztagsschule verbindlich sind. Insbesondere die Bildung verbessernden Elemente, nämlich die zusätzlichen Lernangebote und die Entstressung des üblicherweise vollgepackten Vormittags, müssen gelingen. Schulen können das in seltenen Fällen alles sofort umsetzen, man muss ihnen Zeit für ihre je individuell verschiedene Entwicklung lassen. Im Ergebnis muss eine solche Schule für die Schülerinnen und Schüler überall in Deutschland hindernislos in allen Schulformen anwählbar sein. Egal, wo man in Deutschland wohnt oder hinzieht, es muss dort ein derartiger Schulplatz verfügbar sein.

News4teachers: Welche Chancen bieten Ganztagsschulen, um auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme zu reagieren, beispielsweise auf die Flüchtlingskrise?

Richter: Gute Ganztagsschulen sind naturgemäß Schulen, die auf die unterschiedlichsten individuellen Bedürfnisse und Probleme besser eingehen können als andere Schulen. Das bleibt aber klar abhängig von den Ressourcen, die die Haushalte der verantwortlichen politischen Gliederungen bereitstellen.

News4teachers: Welche Schritte fordern Sie von der Politik?

Richter: Unsere Forderung an die Politik ist eindeutig und klar: Erstens brauchen wir sind bundesweit geltende Qualitätsstandards. Zweitens brauchen wir mehr Investitionen in Bildung. Nötig wäre ein neues vom Bund finanziertes Ganztagsprogramm, das nach dem rasanten Ausbau der Betreuung nun endlich den Fokus auf die verbesserten Bildungsmöglichkeiten für alle bisher benachteiligten Gruppen legt.

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News4teachers: Vom Ganztagsschulsystem wird auch erwartet, dass es dazu beiträgt, die Chancengerechtigkeit zu fördern. Werden in manchen Bereichen vielleicht auch zu hohe Erwartungen an Ganztagsschulen gestellt?

Richter: Die zu hohen Erwartungen und auch eingetretenen Enttäuschungen resultieren in erster Linie daraus, dass die Bezeichnung Ganztagsschule mittlerweile von 60 Prozent der Schulen geführt wird, tatsächlich ist es aber so, dass nur zwölf Prozent der Schulen in Deutschland die von mir genannten Kriterien für eine gute Ganztagsschule umsetzen, die übrigen sind zum Teil auf dem Weg dahin und zum großen Teil nichts weiter als Halbtagsschulen mit einem Additivum, also Betreuung am Nachmittag. Schon die Jako-O-Studie von Emnid 2015 hat gezeigt, dass mehr als 60 Prozent der Eltern eine gebundene Ganztagsschule wählen würden, wenn die verbindlichen Teile der Ganztagsschule nicht über den kompletten Tag ausgedehnt würden. Darin liegt der Schlüssel für die Akzeptanz. Die am 15. Mai 2017 veröffentlichte Studie von vier Stiftungen (Mercator, Robert Bosch, Bertelsmann und Vodafon) zeigt überaus deutlich, dass einerseits bundesweit geltende Qualitätsstandards gebraucht werden und andererseits den Schulen genügend Freiraum für ihre Entwicklung eingeräumt  werden muss. Die Teilnahme an Bildungsangeboten der Schule muss ohne Wenn und Aber schulgeldfrei sein. Es ist allenfalls akzeptierbar, dass die erweiterte Inanspruchnahme der Betreuung zum Beispiel außerhalb der allgemeinen Öffnungszeiten und in den Ferien etwas kosten darf.

Laura Millmann, Redakteurin der Agentur für Bildungsjournalismus, führte das Gespräch.

Hier geht es zur Seite des Ganztagsschulverbands.

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