BERLIN. In Deutschland fehlen Tausende von Lehrern. Vor allem an Grundschulen können freiwerdende Stellen nicht mehr besetzt werden – und die Situation wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen. Wer ist schuld an dem Debakel? Von der Antwort auf diese Frage hängt viel ab. Auch, ob die heutigen Lehramts-Studienanfänger in sieben Jahren eine Stelle finden.

Ende der vergangenen Woche trat Sachsens Kultusministerin Brunhild Kurth (CDU) vor die Presse und tat etwas höchst Ungewöhnliches für eine Bildungspolitikerin: Sie entschuldigte sich. „Fakt ist, dass wir in den nächsten beiden Jahren die voll ausgebildeten Lehrer nicht zur Verfügung haben werden“, erklärt sie. Man finde auf dem Arbeitsmarkt einfach nicht genügend grundständig ausgebildete Pädagoginnen und Pädagogen. Und dafür trage sie als Ministerin zumindest teilweise die Verantwortung. „Ich entschuldige mich dafür, dass die Studienkapazitäten für das Lehramt erst im Wintersemester 2012/2013 ausgebaut wurden“, sagte Kurth.
Persönlich hat sie an den vorherigen Fehlentscheidungen gar nicht mitgewirkt – sie ist erst seit 2012 im Amt. Darüber hinaus ist der akute Lehrermangel insbesondere an den Grundschulen nicht auf Sachsen beschränkt, sondern ein bundesweites Phänomen. Das wirft die Frage auf: Wer ist denn wirklich schuld an dem Debakel? Wer eine solche Situation zukünftig vermeiden will, kommt an einer Antwort darauf nicht herum.
Für Josef Kraus, Ehrenpräsident des Deutschen Lehrerverbands, ist der Lehrermangel Ergebnis eines eklatanten Politikversagens auf breiter Front. „Die Damen und Herren Minister haben es nämlich nicht geschafft oder nicht schaffen wollen, ihre Personalpolitik langfristig zu planen; über den Tellerrand einer vier- oder fünfjährigen Legislaturperiode haben sie kaum hinausgesehen“, meint er.
Fünf Faktoren
Dabei wäre es doch ziemlich einfach gewesen, den Stellenbedarf beim pädagogischen Personal vorauszusehen – der werde nämlich von fünf Faktoren bestimmt, auf deren Basis eine relativ solide Lehrerbedarfsprognose erstellt werden könne, sogar differenziert nach Bundesländern, Lehrerämtern und Unterrichtsfächern. „Die erste Prämisse ist die Altersstruktur der aktiven Lehrerschaft. Diese ist jedem Schulminister für sein Land sehr exakt bekannt. Beispielsweise wusste man bereits im Jahr 2000, dass von den deutschlandweit fast 800.000 Lehrern bis zum Jahr 2015 rund 350.000 in den Ruhestand eintreten“, erklärt Kraus. „Die zweite Bedingung für den Lehrerbedarf sind die Schülerzahlen. Auch sie sind zumindest für die weiterführenden Schulen auf lange Sicht präzise abschätzbar. Die Gymnasiasten, Realschüler, Hauptschüler und Gesamtschüler des Jahres 2027/2028 sind heute schon geboren. Die Schüler des Jahres 2033/34, die dann eine berufliche Schule besuchten werden, sind ebenfalls schon geboren.“
Weitere drei Prämissen des Lehrerbedarfes seien politisch relativ gut prognostizierbar, weil es politische Setzungen seien. „Denn die Politik entscheidet, wie hoch die wöchentlichen Pflichtstunden-Maße der Lehrer sein sollen, wie viele Unterrichtstunden pro Woche eine bestimmte Jahrgangsstufe erhalten und wie groß die durchschnittliche Klassengröße sein soll. Kein Unternehmen in der freien Wirtschaft, die konjunkturellen Zyklen unterliegt, hat so stabile Planzahlen, wie man sie in den Kultusministerien hat“, meint Kraus. Also eigentlich ein Kinderspiel?
Dass es mit Prognosen nicht ganz so einfach ist, lässt jemand erkennen, der gerade die Kultusministerkonferenz (KMK) blamiert hat: Der Bildungsökonom Prof. Klaus Klemm hat im Auftrag der Bertelsmann Stiftung mit Blick auf neueste Geburtenstatistiken die bis dato als aktuell geltenden KMK-Voraussagen sinkender Schülerzahlen widerlegt – und er meint, dass es fast unmöglich sei, den Lehrerbedarf exakt vorherzusehen. „Massive Brüche bei den Geburtenzahlen gab es in Deutschland immer wieder“, erklärt er gegenüber dem „Spiegel“.
Zurzeit gebe es wieder deutlich mehr Geburten als vor einigen Jahren angenommen wurde – 2016 seien es 50.000 mehr als im Vorjahr gewesen. „Die Familienpolitik greift stärker als erwartet“, sagt Kemm. „Zusätzlich steigen die Schülerzahlen durch Zuwanderung.“ Und: „Der Lehrerbedarf hängt von politischen Rahmenbedingungen ab: kleinere Klassen, Ganztagsschulen, Inklusion, G8/G9.” Wer vor einigen Jahren Bildungspolitik verantwortete, habe nicht wissen können, was seine Nachfolger festlegen – und wie viele Lehrer man dafür braucht, sagt der Wissenschaftler.
Schüler-Boom einerseits, Lehrermangel andererseits: Meidinger fordert “Masterplan” der Länder
„Das alles sind Ursachen, die nur bedingt planbar sind“, meint auch der Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands und Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger, gegenüber der „Welt“. „Die längerfristige Planung ist bei Schulen ein wenig die Quadratur des Kreises.“ Änderten sich Gesetze, die Geburtenrate oder Zuwanderungsquoten, würden alte Schätzungen auf einmal hinfällig. Berlin beispielsweise sei lange Zeit ein kräftiger Bevölkerungsschwund vorhergesagt worden – nun wächst die Stadt plötzlich wieder Jahr für Jahr erheblich.
Fixierung auf Planzahlen
Trotzdem nimmt auch Meidinger die Politik nicht aus der Verantwortung. Er wirft den Schul- und Finanzministern allerdings nicht falsche Planung vor – sondern, umgekehrt, eine zu starke Fixierung auf Planzahlen. Jahrelang wurden sinkende Schülerzahlen prognostiziert; also wurden die Ausbildungskapazitäten für den Lehrernachwuchs entsprechend angepasst, ohne dass ein Puffer für Unvorhersehbares eingebaut worden wäre. „Der Gedanke, Geld für jemanden auszugeben, den man erst in einigen Jahren braucht, gilt ja in den Finanzministerien geradezu als skandalös“, sagt Meidinger.
Und genau hier müsse der Hebel ansetzen, um einen solch dramatischen Lehrermangel, wie er sich jetzt abzeichnet, künftig zu verhindern. „Die Länder müssten sich in Zeiten, in denen eine Überversorgung mit Lehrern herrscht, zumindest die 20 Prozent Jahrgangsbesten sichern und sie über Bedarf einstellen.“ So könnten sie Engpässe ausgleichen, wenn später Lehrer fehlten. Sonst drohe absehbar eine neue Runde im sogenannten “Schweinezyklus” (zum Begriff: siehe unten). Heißt: Der aktuelle Fehlbedarf sorgt dafür, dass wieder mehr Abiturienten ein Lehramtsstudium aufnehmen – um dann am Ende ihrer Ausbildung womöglich festzustellen, dass die freien Stellen auf Jahre hinaus schon wieder besetzt sind.
In eine ähnliche Kerbe schlägt Bildungsforscher Klemm, der die Entwicklung auf dem Lehrerarbeitsmarkt seit Jahrzehnten beobachtet. „Dieses Auf und Ab gab es immer wieder”, berichtet er. „Ich hatte Studenten, die wegen einer 1,7 weinend aus der Prüfung gelaufen sind. Sie hatten Angst, wegen so einer ‘schlechten Note’ keine Stelle zu bekommen, weil es so viel Konkurrenz gab.“ Heute unvorstellbar – in zehn Jahren wieder Realität? bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
Droht neue Runde im „Schweinezyklus“? Lehrermangel treibt Zahl von Studienanfängern nach oben
„Schweinezyklus“. Das klingt despektierlicher, als es gemeint ist: Der Begriff kommt aus der Ökonomie – und beschreibt das Problem der Zeitverzögerung bei der Anpassung des Angebots auf einem Markt.
Der Wirtschaftswissenschaftler Arthur Hanau (1902-1985) beobachtete das Phänomen eines hin- und herpendelnden Fleischmarktes 1926. Ein starker Anstieg der Nachfrage, ausgelöst etwa durch eine steigende Bevölkerungszahl oder steigenden Wohlstand, bringt zu gegebenen Preisen eine höhere Nachfrage nach Schweinefleisch mit sich. Das Angebot an Schweinefleisch kann jedoch kurzfristig nicht angepasst werden, zusätzliche Schweine müssen erst aufgezogen werden. Die Folge: Die Preise steigen – die Nachfrage sinkt. Wenn die Bauern die Tiere endlich aufgezogen haben, bieten sie das Fleisch auf dem dann wieder geschrumpften Markt an. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie auf ihrem Angebot sitzen bleiben oder es verramschen müssen.
Auf die heutigen Studienanfänger übertragen, hieße das: Arbeitslosigkeit droht.
