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Die Grundschullehrer sollen schuld sein? Das IQB-Desaster spiegelt vor allem eins: die völlig vermurkste Inklusion!

Priboschek

Eine Analyse von News4teachers-Herausgeber ANDREJ PRIBOSCHEK.

Der Bildungsjournalist Andrej Priboschek. Foto: Tina Umlauf

Man stelle sich vor, der Bundesverkehrsminister wäre nach Bekanntwerden des Diesel-Skandals nach Wolfsburg geeilt, um den Monteuren am Band von VW zu erklären, sie müssten den Schraubenschlüssel gefälligst anders halten – und überhaupt, sie sollten es mal mit anderem Werkzeug probieren. So, wie sie bisher die Autos montiert hätten, könne das ja nicht funktionieren. Absurd?

In der Schulpolitik offenbar nicht. So ist erste Reflex von Baden-Württembergs Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) auf das schlechte Abschneiden im IQB-Viertklässlervergleich, die Kompetenz vieler Grundschullehrer in ihrem Land zu bezweifeln. Schlechte Personalausstattung? Kann es aus Sicht der Ministerin nicht sein. „Bayern hat deutlich mehr Schüler, deutlich weniger Lehrer, aber deutlich bessere Ergebnisse“, sagt Eisenmann.

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Eisenmann zum IQB-Debakel: Nur mehr Geld in die Grundschulen zu stecken, nützt nichts – es sind vor allem die Methoden!

Das mag stimmen. Bayern hat allerdings auch eine deutlich niedrigere Inklusionsquote als die meisten anderen Bundesländer. Lediglich 27,4 Prozent der Schüler mit Förderbedarf besuchten im Schuljahr 2016/17 im Freistaat eine Regelschule, nur Hessen lag mit 26,8 Prozent darunter – wie überhaupt in Bundesländern mit konservativen Regierungen der Anteil an Schülern mit Förderbedarf an Regelschulen besonders niedrig ist, wie die “Rheinische Post” unlängst berichtete. Im Bundesschnitt wurden 41,1 Prozent aller Schüler mit Förderbedarf  an Regelschulen unterrichtet. In Baden-Württemberg hatte Grün-Rot, das bis 2016 regierte, die Inklusionsquote hingegen hochgetrieben, ebenso in Nordrhein-Westfalen, wo bis Juni Rot-Grün regierte. Besonders hoch lag die Inklusionsquote in sämtlichen Stadtstaaten (Berlin 74,4; Hamburg 64,2). Spitzenreiter ist Bremen mit einer Quote von 88,9 Prozent.

Und jetzt halten wir mal die Ergebnisse im IQB-Bundesländervergleich daneben: Gut abgeschnitten haben Bayern und Sachsen. Abgestürzt sind Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Schlusslichter sind die Stadtstaaten Berlin und Bremen.

Das heißt: Im Resultat der IQB-Studie spiegelt sich die völlig vermurkste Inklusion, die bislang vor allem eben auf die Grundschulen ungebremst zugerollt ist, während sich weiterführende Schulen – vor allem Gymnasien – zum Teil vornehm zurückhalten. Mehr als die Hälfte der Kinder mit besonderem Förderbedarf im Alter zwischen sechs und zehn Jahren geht bereits auf eine Regel-Grundschule. Tendenz: stark steigend. Dass diese Inklusion als Sparmodell in die Politik gebracht wurde, lässt sich nachweisen. News4teachers hat die Verwaltungsvorlage für die Bundestags-Entscheidung zur Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention eingesehen. „Kosten: keine“, so steht darin zu lesen (nur die damals oppositionelle FDP mochte das nicht glauben).

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Tatsächlich wollte beispielsweise das Land Baden-Württemberg trotz beschlossener Inklusion mehr als 20.000 Lehrerstellen streichen, bis der Ministerpräsident (Kretschmann) kurz vor der Landtagswahl das Konfliktpotenzial dieser Maßnahme erkannte und dann doch sogar mehr Stellen einrichten ließ. Nur: Die jahrelang rot leuchtenden Signale in Sachen Grundschul-Einstellungen haben längst Wirkung gezeitigt. Es gibt nämlich kaum mehr Einsteiger ins Grundschul-Lehramt, jedenfalls viel weniger, als benötigt werden. Deshalb kann die Politik derzeit Stellen in der Primarstufe schaffen, so viel sie will: Sie werden sich kaum besetzen lassen. In manchen Bundesländern übertrifft bei den Neuanstellungen für die Grundschulen die Zahl der Seiteneinsteiger bereits diejenigen mit Lehramtsstudium. Ob das zukünftig zu besseren IQB-Ergebnissen führt? Zweifel sind erlaubt.

Eine Frage der Anerkennung

Hiermit sind wir auch bei der Anerkennung von Grundschullehrkräften angelangt. Immer noch gilt in Deutschland das Prinzip: kleine Kinder, kleines Geld. Was historisch in einer Geringschätzung pädagogischer Expertise (und wohl auch von Frauenarbeit) gegenüber (früher fast ausschließlich von Männern vermitteltem) Fachwissen begründet liegt, hat heute – im Zeitalter sich angleichender Studienzeiten – keine Berechtigung mehr. Die Arbeit von Pädagogen jeder Schulform und -stufe ist gleichwertig. Wenn so mancher Gymnasiallehrer das anders sieht, kann er ja mal versuchen, Kindern ohne mathematisches Grundverständnis (das in der Grundschule gelegt wird), den Satz des Pythagoras zu vermitteln. Und diese Gleichwertigkeit muss sich natürlich auch bei der Bezahlung ausdrücken: A13/E13 für alle! Daran geht über kurz oder lang kein Weg vorbei. Erste ermutigende Signale (Angleichung in Berlin, Ankündigung einer Besoldungsreform in NRW) gibt es ja schon.

Das IQB-Desaster hatte sich übrigens bereits angekündigt. Schon bei der jüngsten TIMS-Studie im vergangenen Jahr waren die deutschen Viertklässler im internationalen Vergleich gegenüber der Vorgängerstudie 2012 abgestürzt: von einem Platz in der erweiterten Spitze ins graue Mittelmaß. Wichtig zu wissen: bei TIMSS geht es um Mathematik und die Naturwissenschaften. Das belegt deutlich, wie absurd – und hilflos – die aktuellen Vorstöße aus der Schulpolitik sind, Grundschullehrern Methoden á la „Schreiben wie Hören“ verbieten zu wollen. Die haben mit Rechnen nun mal gar nichts zu tun.

Das Problem geht viel tiefer – und lässt sich auch nicht allein in Lehrerstellen ausdrücken. Lehrer sind zum Unterrichten da, werden von der Politik aber zunehmend als „eierlegende Wollmilchsäue“ angesehen. Lehrer sollen Flüchtlingskindern Deutsch beibringen (die übrigens in die IQB-Studie noch gar nicht eingegangen sind) und Einwandererkinder integrieren, sie sollen die Inklusion behinderter und verhaltensauffälliger Schüler bewerkstelligen, sie sollen zunehmende Erziehungsprobleme lösen, die Folgen eines überbordenden Bildschirmkonsums in den Kinderzimmern ausgleichen, sie sollen sexuellen Missbrauch in den Familien erkennen, für Chancengleichheit zwischen Arm und Reich sorgen, die Medienkompetenz ihrer Schüler in der digitalen Welt voranbringen. Und für den Fall, dass ein Lehrer mal beim Atemholen erwischt würde, gibt es bereits eine ganze Menge Forderungen auf Halde, was er sonst noch zu leisten hat: Ernährungsbildung, Berufsorientierung, Demokratieförderung … Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwer eine gute Idee für die Schule hat und in die Öffentlichkeit trägt.

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Wohlgemerkt: Vieles davon ist sinnvoll, manches sogar sehr wichtig. Nur: Lehrer allein können es nicht leisten. Das galt bisher schon, gilt aber zukünftig noch mehr. Lehrkräfte werden eben knapp. An den Grundschulen macht sich bereits ein dramatischer Lehrermangel bemerkbar. Bundesländer wie Hessen und Nordrhein-Westfalen versuchen schon verzweifelt, pensionierte Kollegen für den Schuldienst zurück zu gewinnen. Selbst wenn das punktuell erfolgreich sein sollte, werden doch absehbar nicht mehr alle freiwerdenden Stellen besetzt werden können. Der Arbeitsmarkt gibt in den nächsten Jahren nicht mehr her. Das ist misslich. Aber darin liegt auch eine große Chance. Wenn nämlich die Politik endlich erkennt, dass Schulen heutzutage mehr Kompetenzen benötigen, als sie ein Lehrer qua Ausbildung mitbringt – und endlich multiprofessionelle Teams einsetzt.

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Es gibt kein Krankenhaus, dessen Personal nur aus Ärzten besteht. Es gibt allerdings viele Schulen in Deutschland, deren Kollegium (wenn man mal von der Schulsekretärin und dem Hausmeister absieht) sich nur aus Lehrern zusammensetzt. Ansätze, das zu ändern, sind ja vorhanden: Mehrere tausend Stellen für Schulsozialarbeiter, immerhin, sind innerhalb der vergangenen zehn Jahre bundesweit geschaffen worden. Und in Brandenburg wurde jetzt ein Modellprojekt gestartet, bei dem Schulkrankenschwestern zum Einsatz kommen. So löblich das ist: Wieso braucht es einen jahrelangen, auf wenige Schulen begrenzten Versuch, um herauszufinden, was jeder schon vorher weiß (weil es in anderen Staaten seit Jahrzehnten üblich ist)? Dass nämlich Mitarbeiter, die sich um die Gesundheit von Kindern und Lehrkräften kümmern, eine wichtige Funktion in der Schule haben – schon allein deshalb, weil die Inklusion immer mehr auch chronisch kranke Kinder in die Regelschulen bringt.

Viele Helfer nötig

Im Zeitalter der Inklusion sind viele solcher Helfer für die Lehrkräfte dringend nötig: Schulpsychologen, die sich um die Diagnose von Lernschwierigkeiten kümmern, Ergo-Therapeuten, die mit betroffenen Kindern arbeiten, IT-Fachleute, die digitale Lerntechnik warten, Sozialpädagogen, die auch private Probleme von Schülern mit in den Blick nehmen können – und wenn solche Experten nicht an die Schule zu bekommen sind (weil die etwa zu klein ist), dann braucht es eben einen Koordinator, der zum Beispiel externe Stellen und die Eltern zusammenbringt, damit die Hilfe für das Kind gesteuert anlaufen kann. Ob Schulassistenten, Inklusionshelfer, Integrationsbeauftragte oder Erzieher – die Liste ließe sich leicht erweitern und sähe an jeder Schule vermutlich anders aus. Je nach Schülerschaft, je nach Bedarf eben.

Praxisferne Ratschläge von Politikern an die „Monteure am Band“, wie sie den „Schraubenschlüssel“ besser halten können,  helfen dagegen niemandem.

 

 

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