Die Inklusion hat in Deutschland den Förderschulzwang für behinderte Kinder weitgehend beseitigt. In den meisten Bundesländern besteht mittlerweile ein grundsätzlicher Anspruch der Eltern auf einen Platz an einer Regelschule. „Die öffentlichen Schulen ermöglichen allen Schülerinnen und Schülern einen barrierefreien und gleichberechtigten Zugang und sind damit inklusive Schulen. Welche Schulform die Schülerinnen und Schüler besuchen, entscheiden die Erziehungsberechtigten“, so heißt es beispielsweise im 2012 geänderten niedersächsischen Schulgesetz. Eine Ausnahme ist darin nicht vorgesehen.
Was ist aber, wenn Kinder sich partout nicht integrieren lassen – wenn sie sogar eine Gefahr für ihre Mitschüler darstellen? Ein aktueller Fall aus Niedersachsen hat eine Debatte um die Grenzen der Inklusion ausgelöst.
Polizei gerufen
„Die Kinder haben sich völlig verweigert und wollten nicht wieder ins Gebäude kommen“, so berichtet die Klassenlehrerin einer dritten Klasse gegenüber den „Schaumburger Nachrichten“. Da sie selbst das Schulgelände nicht verlassen konnte, um dort nicht ihre Aufsichtspflicht zu verletzen, und sich zudem um den Jungen kümmern musste, der geschlagen worden war, rief sie die Schulleiterin dazu. Die erzählt: „Ich konnte nicht anders handeln, als die Polizei zu rufen.“ Was war geschehen? Drei Jungen mit „emotionalen-sozialen Auffälligkeiten“, die in einem Heim leben, hatten einen ihrer Mitschüler verprügelt und waren dann vom Schulhof in einen nahegelegenen Wald gelaufen, wo sie dann später von der Polizei und von Heimmitarbeitern eingesammelt wurden.
Kein Einzelfall. „Seit den Sommerferien gibt es täglich einen Zwischenfall an unserer Schule“, sagt die Rektorin. Ihre Schule ist eine normale Kleinstadt-Grundschule. Im Zuge der Inklusion sind dort allerdings immer mehr besonders förderbedürftige Kinder aus Heimen und Erziehungsstellen zu unterrichten. Und das geht offenbar mittlerweile über die Kräfte der Lehrerinnen des Kollegiums. „Wir sind pädagogische Zehnkämpfer, müssen Aufgaben als Streitschlichter, Polizisten, Kinderpsychologen, Familientherapeuten, Krankenschwestern, Sekretärinnen, Ersatzmamas, Rechtsanwälte, Organisationsprofis, ach ja und auch die von Lehrern ausfüllen. Das geht so nicht. Hier hat Inklusion seine Grenze“, so meint die Schulleiterin gegenüber dem Blatt.
„Die Kinder mit emotional-sozialem Status machen das nicht mit Absicht. Sie sind schlicht überfordert, und zwar nicht, weil sie dumm sind. Ganz im Gegenteil, viele sind sehr intelligent, aber sie sind einfach überfordert mit vielen Situationen“, ergänzt die Lehrerin. Diese Schüler kämen aus zerrütteten Familien, hätten schon viel durchgemacht und seien daher eben emotional und sozial auffällig. Sie hätten so viel im Kopf, dass mitunter ein Funken reiche, um sie zum Ausrasten zu bringen. „Dann laufen die Kinder aus dem Unterricht, begehen immer wieder Sachbeschädigungen. Und wenn ihnen dann ein anderes Kind zufällig über den Weg läuft, weil es gerade von der Toilette kommt, dann schlagen die emotional-sozial auffälligen Kinder schon mal zu.“
Überforderte Lehrer
Der Bericht schlug in der Kleinstadt ein wie eine Bombe. „Bei mir hat in den vergangenen Tagen das Telefon nicht mehr still gestanden“, so erzählt die Schulleiterin einige Tage nach Erscheinen gegenüber der Lokalzeitung – und stellt klar, dass sie die betroffenen Kinder nicht stigmatisieren möchte. „Wir jammern nicht, und dieser Hilferuf ist auch keine Bankrotterklärung, sondern wir möchten klarstellen, dass wir hier an unsere Grenzen mit der Umsetzung der Inklusion stoßen. Eine Rampe für ein Kind mit körperlicher Behinderung zu bauen, ist etwas völlig anderes, als die pädagogische Betreuung von Kindern mit emotional-sozialer Auffälligkeit sicherzustellen“, so sagt sie. In diesem Punkt seien aber Lehrer allein überfordert. Lehrkräfte habe sie (im Gegensatz zu vielen anderen Grundschulen in Deutschland) in ausreichender Zahl im Kollegium, aber Sozialarbeiter und Schulbegleiter fehlten. „Und das muss man einfach mal sagen dürfen.“
Heißt Inklusion denn die Einbeziehung wirklich aller Schüler in den Regelunterricht – also auch schwerstbehinderter oder aggressiver Kinder? Offenbar nicht. „Die UN-Behindertenrechtskonvention, dies belegt schon ihr Entstehungskontext, fordert eine möglichst weitreichende, jedoch keine 100-prozentige Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen“, so heißt es in einem Rechtsgutachten, das die Regierung von Mecklenburg-Vorpommern zur UN-Behindertenrechtskonvention erstellen ließ, die seit 2009 die gesetzliche Grundlage für die Inklusion in Deutschland darstellt. Praktische Regelungen, wie solche Ausnahmen vom grundsätzlich ja geltenden Anspruch auf eine Regelschule allerdings festgestellt werden (muss das zum Beispiel ein Gericht entscheiden?), fehlen.
Hilfe? Fehlanzeige
In einer Broschüre der Landesschulbehörde Niedersachsen zu „Schülerinnen und Schülern mit Autismus-Spektrum-Störung im gemeinsamen Unterricht“ ist zwar angeführt, dass aggressives Verhalten auftreten kann. Dann gelte: „Ein Schutz der Mitschüler – aber auch des Schülers – ist ggf. notwendig.“ Wie der allerdings aussehen kann, dazu gibt es keine Hinweise. Überhaupt wirken die Ratschläge für Lehrer, die in solchen Krisensituationen stecken, wenig vertrauenserweckend. „Hilfreiche Reaktionen der Lehrkraft können sein: mit einer ruhigen und festen Stimme sprechen, klar formulieren, für eine reizarme, ruhige Situation sorgen“, so heißt es lapidar. Von wem sich Lehrerinnen und Lehrer in solchen Situationen Unterstützung holen können – davon ist keine Rede. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus
Wir brauchen jetzt eine breite Debatte über die Inklusion – sonst droht ihr das Schicksal von G8