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“Dumm und faul? Ach was – mein Kind ist hochbegabt und unterfordert!” Woran Lehrer erkennen, ob Eltern damit vielleicht doch recht haben könnten

BRAUNSCHWEIG. Viele Eltern glauben, ihr Kind sei hochbegabt. Doch woran lässt sich erkennen, ob tatsächlich eine Hochbegabung vorliegt? Und was kann ich als Lehrer oder Lehrerin tun, um ein hochbegabtes Kind möglichst gut zu fördern? Zwei Experten, die Professoren Uwe Sandfuchs und Clemens Zumhasch, geben Antworten. Der Text ist zunächst in der Zeitschrift “Grundschule” erschienen.

Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

“Mein Kind ist hochbegabt” – das bekommen Lehrer öfter zu hören. Foto: Shutterstock

Herausforderung Hochbegabung

Das Fördergebot gilt für alle Schülerinnen und Schüler. Alle Kinder und Jugendlichen haben Anspruch auf „eine ihrem intellektuellen Vermögen und ihrer individuellen Leistungsfähigkeit bestmögliche Bildung“ (KMK 2009, S.1) – auch die hochbegabten. Doch: Was ist Hochbegabung? Wie wird sie gemessen? Der Begriff „Hochbegabung“ steht für eine Vielzahl mehr oder weniger komplexer Modellvorstellungen (vgl. Henze u. a. 2014, S.218f.), es kommen sukzessive neue Alternativen beziehungsweise Variationen hinzu, selbst die vorliegenden Typologien von Modellen divergieren (vgl. etwa Hany 2006, S. 611ff., Preckel / Vock 2013, S. 15-49, Rost 2013).

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Die Zeitschrift Grundschule
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Der Text erschien zunächst in der Ausgabe “So gelingt Ihnen der individualisierte Unterricht” der Zeitschrift “Grundschule”. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).

Die zunehmende Einbeziehung von Förderschülern in den Regelunterricht im Zuge der Inklusion macht auch in Grundschulen eine pädagogische Standortbestimmung notwendig: Wie werde ich als Lehrerin oder Lehrer allen Kindern gerecht? Die Autoren benennen die didaktischen Prinzipien eines zeitgemäßen Förderunterrichts – und zeigen auf, welche Konsequenzen in der Praxis sich daraus ergeben. Dazu: Wie lassen sich Förderprofile für ein Schulprogramm entwickeln? Das Heft bietet praktische Anleitungen für die Fächer Deutsch und Mathematik.

 

Ein Minimalkonsens besteht insofern, als die intellektuelle Leistungsfähigkeit von Personen durchweg berücksichtigt wird (vgl. Henze u. a. 2014, S. 128). Die Klassifikation einer Person als intellektuell „hochbegabt“ beziehungsweise seine Abgrenzung von „nicht hochbegabten“ setzt freilich Einteilungskriterien voraus. Eine Konvention ist, Personen dann als „hochbegabt“ zu bezeichnen, wenn sie in einem einschlägigen Intelligenztest eine Leistung erzielen, die zwei Standardabweichungen über der jeweiligen Durchschnittsleistung liegt (IQ > 130 bzw. Prozentrang > 98): Etwa zwei Prozent einer Personengruppe vermögen eine entsprechend hohe Testleistung zu erbringen.

Auf den ersten Blick attraktiv sind mehrdimensionale Modelle. Sie erweitern das Spektrum an Begabungsbereichen, benennen unterschiedliche Bedingungen für Hochbegabung und deren Formen:

Von daher ermöglicht dieses Modells unter anderem, erwartungswidrige Schulleistungen von hochbegabten Underachievern zu erklären. Allerdings gibt es auch keine einheitliche Definition des Phänomens „Underachievement“. Die Schätzungen des Anteils an Underachievern unter Hochbegabten divergieren außerordentlich (siehe hierzu Preckel / Vock 2013, S. 82ff. sowie S. 123ff.).

Die empirische Tragfähigkeit mehrdimensionaler Modelle ist unseres Erachtens derzeit zurecht umstritten. Nach wie vor gilt die von Rost wiederholt geäußerte Kritik (etwa 2001), dass lediglich für Intelligenz zufriedenstellende operationale Definitionen und hieran jeweils orientierte wissenschaftliche kontrollierte Messverfahren vorliegen, dass die Messung der allgemeinen Intelligenz immer noch als bester Prädiktor für eine Vielzahl von Leistungskriterien darstellt. Die von Heller und Perleth (2007) vorgelegte Münchner Hochbegabungstestbatterie für die Primarstufe (MHBT-P) stützt die kritische Einschätzung mehrdimensionaler Hochbegabungsmodelle: Mit Ausnahme von zwei der drei Testteile, die intellektuelle Fähigkeiten erfassen sollen, „sind sowohl die Explikation der Konstrukte als auch die empirischen Belege für Reliabilität und Validität der Skalen wenig zufriedenstellend“ (vgl. Henze u. a. 2014, S. 219).

Demgemäß sind nach wie vor Intelligenztests zur Erfassung kognitiver Fähigkeiten die zentralen Instrumente von Hochbegabungsdiagnostik. Zur Messung intellektueller Fähigkeiten im Kindesalter liegt eine Reihe von Intelligenztests vor: Überblicke und Informationen geben bspw. Kany / Schöler (2009), Preckel (2010) sowie Preckel / Vock (2013).

Allerdings sind Intelligenzmessungen im Vorschul- und Grundschulalter nur in Grenzen verlässlich (vgl. Henze u. a. 2014, S. 220f.): Stabile Ergebnisse scheinen erst ab dem Alter von neun Jahren möglich zu sein. Zudem enthalten derzeit noch viele im Kindesalter eingesetzte Intelligenztests zu wenig schwierige Aufgaben, was eine verlässliche Differenzierung von Kindern innerhalb des Bereichs intellektueller Hochbegabung verhindert. Weiterhin ist die sichere Intelligenzmessung bei Kindern mit Migrationshintergrund schwierig, wenn es an sprachlichem Verständnis mangelt.

Im Alltag beliebt sind sogenannte Checklisten für Eltern und Lehrkräfte zur Identifikation hochbegabter Kinder. Die in diesen Listen verwendeten Items (Aussagen oder Beobachtungskategorien) sind indes in der Regel überaus unpräzise – zuweilen sogar bizarr – formuliert, gemessen an wissenschaftlichen Kriterien für die effektive Diagnose von Hochbegabung unbrauchbar. Vergleichbares gilt für die sogenannten „Nominationen“ durch Eltern und Peers sowie Selbstnominationen (vgl. Perleth 2010, Baudson 2010; Preckel / Vock, S. 2013, S. 131-135). Es mangelt gegenwärtig an einem aussagekräftigen wissenschaftlich fundierten, empirisch kontrollierten Instrumentarium. Einzelne Verfahrensweisen können allenfalls das traditionelle psychometrische Vorgehen ergänzen, „für Merkmale sensibilisieren und in Kombination mit einem systematischen Training zu einer Verbesserung des Erkennens Hochbegabter beitragen“ (vgl. Preckel / Vock, S. 135).

Damit ist klar: Die Diagnose von Hochbegabung kann nicht von Lehrkräften vorgenommen werden, es ist vielmehr die Hinzuziehung regionaler und/oder zentraler Institutionen „mit besonderen Personal- und Fachkompetenzen“ erforderlich (KMK 2009, S.2). Die insgesamt unklaren Formulierungen in diesem Abschnitt des KMK-Beschlusses zeigen, dass hier noch viel Arbeit für Bildungspolitik und Bildungsverwaltung bleibt. Da das eingangs zitierte Förderpostulat alle Schülerinnen und Schüler meint, greift eine auf mutmaßlich hochbegabte konzentrierte Diagnostik eh zu kurz.

Der Begabungsforscher Detlef H. Rost hat in einem Vortrag sinngemäß gesagt, die Förderung Hochbegabter sei eigentlich ganz einfach. Das leuchtet ein, wenn man sich vor Augen führt, dass in Untersuchungen immer wieder eine Überlegenheit Hochbegabter in Lernfähigkeit, Lernmotivation, Lernwille, Selbstkonzept und anderen relevanten Faktoren deutlich wird (vgl. Rost 2001, S. 245).

Das klingt auch zunächst „ganz einfach“, ist zumindest einfacher als die Förderung bei geringer Lernfähigkeit und Lernbereitschaft, niedriger Aufgabenorientierung und mangelnder Konzentrationsfähigkeit bei leistungsschwachen Schülern. Gleichwohl ist ein sachkundiges und sensibles Vorgehen erforderlich. Generell werden folgende Maßnahmen unterschieden (vgl. etwa Henze u. a. 2014, S. 221ff.):

Eine Ergänzung hierzu können Maßnahmen äußerer Differenzierung wie Spezialkurse, Pull-out-Programme oder Arbeitsgemeinschaften außerhalb der Schulzeit sein, in denen hochbegabten Schülern anstelle des regulären Klassenunterrichts für eine gewisse Zeit spezielle Angebote gemacht werden. Inhalte und Leistungsanforderungen sollen den Lernmöglichkeiten und Interessen der Hochbegabten in spezifischer Weise entsprechen.

In einer Begleituntersuchung eines Schulversuchs zur integrativen Förderung hochbegabter Grundschüler (Henze u. a. 2006) wurden 570 Unterrichtsstunden unter der Fragestellung analysiert, welche unterrichtlichen Maßnahmen sich für Hochbegabte beziehungsweise Hochleister als besonders lernförderlich erweisen. In besonderem Maße lernförderlich waren Situationen, die zum eigenständigen Lernen herausfordern. Das heißt, die Lernenden werden mit komplexen Lerninhalten und anspruchsvollen Aufgaben konfrontiert; es wird Freiraum gelassen für selbst gesteuerte Lernprozesse und eigenständige Lösungswege sowie ein hohes Maß an lernstrategischer Kompetenz wird abverlangt. Lernförderlicher Unterricht für Hochbegabte und Hochleister ist gekennzeichnet durch hohe Anforderungen an kognitive und soziale Fähigkeiten sowie die Selbstständigkeit des Wissenserwerbs. Im Einzelnen zeigt sich:

  1. Die hochbegabten Schüler setzen ihr Vorwissen ein,
  2. sie verfolgen zielstrebig eigene Lerninteressen,
  3. arbeiten selbstständig,
  4. erweitern ihr Wissen,
  5. treiben den Unterricht voran, indem sie ihre Kompetenzen und Ideen einbringen,
  6. übernehmen teilweise im Sinne reziproker Instruktion Lehr- oder Helferfunktionen.

Die Mitschüler profitieren von Kompetenz, Ideen und Hilfe der Hochbegabten beziehungsweise Hochleistern. Die Lehrkräfte führen solche Situationen absichtsvoll herbei, sie wirken herausfordernd, unterstützend und/oder korrigierend auf die Lernprozesse ein.

Förderkonzepte für hochbegabte Kinder können gewiss nicht nur integrativ, sondern auch segregierend in Form von Spezialschulen oder -klassen konzipiert werden. Diese sind indes mit dem generellen integrativen Bildungsauftrag der Grundschule kaum vereinbar.

Es gibt ein Repertoire an Fördermaßnahmen für hochbegabte Schüler in der Grundschule, das aber durchweg hohe Förderkompetenz seitens der Lehrkräfte bedingt. Zugleich reicht es nicht aus: Weitere Konzepte und Materialien müssen entwickelt werden. Hinzu kommt, dass es nach wie vor an empirisch fundierte Evaluationen mangelt. Über Vorzüge und Schwächen einzelner Maßnahmen sind bislang relativ wenig wissenschaftlich begründete Aussagen möglich. Die Förderaufgabe, der Erwerb von Förderkompetenz ist folglich alles andere als einfach.

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Die Autoren

Prof. Dr. Uwe Sandfuchs war vor seiner Pensionierung 2008 16 Jahre lang Leiter des Lehrstuhls für Grundschulpädagogik und Historische Pädagogik an der TU Dresden. Seit fast 30 Jahren gehört der Braunschweiger außerdem dem Redaktionsbeirat des im Westermann-Verlag erscheinenden Fachmagazins „Grundschule“ an. Sandfuchs hat zahlreiche Publikationen rund um das Thema Erziehung und Lehrerausbildung veröffentlicht. Prof. Dr. Clemens Zumhasch ist Mitarbeiter in der Professur für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Grundschulpädagogik an der TU Dresden. 

Literatur

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