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Wie kommt die Moral in die Politik? Sie muss vermittelt werden – schon in der Schule. Aber da fangen die Probleme an …

BERLIN. Moral ist in der Politik fast zum Schimpfwort verkommen. Rechte sprechen abfällig von “Gutmenschen”, wenn sie politische Gegner als dumm, naiv und weltfremd darstellen wollen. Der Thüringer AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke nannte Kritiker, die sich am Wochenende über AfD-Parteichef Alexander Gauland und dessen Charakterisierung der NS-Zeit als “Vogelschiss” empörten, “Hypermoralisten, die jetzt wieder aufschreien” – allerdings nicht, ohne für sich selbst die Moral zu reklamieren: “Diese Herrschaften haben in meinen Augen jedes Recht verwirkt, sich moralisch über AfD-Politiker zu äußern“. Das können offenbar nur AfD-Politiker selbst.

Tatsächlich, so meint der renommierte Psychologe und Bildungswissenschaftler Georg Lind, kommt die Politik nicht ohne (echte) Moral aus – und die Demokratie-Erziehung in der Schule nicht ohne die Entwicklung von Moralkompetenz. Was ist das? Der folgende Beitrag, der dritte Teil einer vierteiligen Reihe zum Thema auf News4teachers, klärt auf.

Wo ist sie bloß hin, die Moralkompetenz? Foto: Olaf Kosinsky/Skillshare.eu / Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0 DE)

Demokratie-Erziehung: Auf die Moralkompetenz kommt es an

Wenn Demokratie ein moralisches Ideal ist, dann braucht der Mensch in einer Demokratie nicht nur allgemein Bildung, son­dern auch eine spezielle Bildung, die ihn dazu befähigt, seine eige­nen Interessen zu artikulieren und die Interessen anderer zu erkennen und gegen­einander abzuwägen, sowie die dabei auftretenden Probleme und Konflikte friedlich, durch Denken und Diskus­sion zu lösen. Dies ist, was wir als Moralkompetenz bezeichnen (Lind 2015). Moralkompetenz ist eine sehr gut erforschte Fähigkeit, die einfach zu messen ist und zu der es inzwischen effektive und lehrbare Unterrichtsmethoden gibt. Sie ist also etwas anderes als die „sozialen“ oder „emotionalen“ Kompetenzen, von denen viel die Rede ist, bei denen aber meist nicht klar ist, was sie konkret bedeuten und wie sie im Unterricht wirksam gefördert werden können.

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Moralkompetenz ist nicht angeboren. Anders als die moralisch-demokratischen Ideale, die uns angeboren scheinen, muss sie sich ent­wickeln können. Sie entwickelt sich durch Ge­brauch, das heißt, ihre Entwicklung ist abhän­gig davon, dass wir mit Heraus­forde­rungen kon­frontiert werden, die unsere Fähigkeiten fordern, aber nicht über­fordern. Viele Kinder finden zu wenige solche Lerngelegenheiten in der Umwelt, in der sie aufwach­sen (Lind 2006). Eltern geben ihren Kindern solche Lern­gelegenheiten, soweit sie die Zeit dazu finden und das tun können. Es tun eher die Eltern, die ihrerseits genügend Bil­dung ge­nießen durften (Speicher 1994). Die Entwicklung von Moral­kompetenz ist daher bei den meisten Kindern auf die Hilfestellung durch die Schule ange­wiesen.

Offenbar leisten das viele Schulen und Lehrpersonen bei uns, obwohl dieses “Fach” bis heute weder in der Lehrerausbildung noch im Stundenplan vorkommt. Umfang und Qualität von Schul­bildung ist der mit Abstand stärkste Faktor für die Entwicklung der Moralkom­pe­tenz. Zusammen­hänge mit sozialer Schicht, kulturellem Hintergrund und Geschlecht, wie sie manchmal berichtet werden, sind dagegen deutlich geringer und verschwinden oft, wenn man den Anteil, den Bildung an diesem Zusammenhang hat, heraus rechnet (Lind 2002).

Angesichts der großen Herausforderungen unserer heutigen Zeit (wie soziale Ungleich­heit, tech­­nischer Wandel, Immigration, Inklusion von Behinderten, Umweltverschmutzung, Arten­ster­ben, bewaffnete Konflikte, Terrorismus, Fremdenfeindlichkeit, Drogensucht) reichen die Gele­gen­­­heiten zur moralisch-demokratischen Entwicklung, die Schulen heute bieten, jedoch nicht aus und sie sind nicht nachhaltig. Sie reichen nicht aus, weil sie meist vom individuellen Einsatz der Lehrer und von den Freiräumen abhängen, die Leistungsdruck und Schulaufsicht ihnen lassen. Viel zu viele Schüler haben am Ende der Schulzeit noch nicht einmal das Minimum an Moral­kom­­petenz erreicht, das notwendig ist, um Probleme und Kon­flikte im Alltag durch Denken und Diskussion zu lösen.

Die Moralerziehung an unseren Schulen ist auch nicht nachhaltig. Viele Schüler erreichen nicht den Grad an Moralkompetenz, der notwendig ist, um später alleine Lern­ge­­le­gen­heiten aufzusuchen und sich dadurch selbst weiter zu entwickeln. Menschen mit ge­rin­ger Moral­kom­petenz empfinden viele Entscheidungssituationen nicht als Lerngele­gen­hei­ten, sondern als be­droh­­­­­lich, weil diese sie überfordern. Die Vermeidung solcher Gelegen­hei­ten aber lässt ihre Moral­kompetenz weiter verkümmern. Dieses Regressionsphänomen findet sich bei fast allen Kindern, die weniger als zwölf Jahre Schulbildung bekommen haben (Lind 2002). Bei Er­wach­se­nen treten Re­gressionen der Moralkompetenz dann auf, wenn sie in ihrem Lebensraum zu wenig Gelegen­heit zu deren Gebrauch bekommen, wie das oft bei Straf­­ge­fangenen (Hem­merling 2014), aber auch bei Medizinstudierenden (Schillinger 2006) der Fall ist.

Moralisch-demokratische Kompetenz wächst nicht von allein

Die Forschung zu Moral- und Demo­kra­tiepsychologie der letzten Jahrzehnte hat wichtige neue Erkenntnisse über die Natur, Mess­barkeit, Relevanz, Ent­wick­lung und Lehrbarkeit der Moral erbracht, die den Weg für eine neue Ausrichtung der Demokratie-Erziehung wiesen (Lind 2002; 2015; 2017a; 2017b). Wir wissen jetzt, dass für demokratisch kompetentes Verhalten zwei verschiedene Aspekte moralischer Gefühle wichtig sind: Zum einen der zentrale Aspekt der Orientierung. Die Orientierung an demokratische Moralprinzipien wie Gerech­tigkeit, Freiheit und Kooperation ist für moralisches Verhalten unabdingbar. Sie muss uns jedoch nicht beschäftigen: Sie ist uns aber ange­boren und tief in unseren Gefühlen ver­ankert – so dass sie uns nicht erst durch Erzie­hung ver­mit­telt werden muss. Zum anderen ist es der kognitive Aspekt der Fähigkeit, gemäß solcher Orientierungen zu handeln. Diese ge­fühlten Moralprinzipien sind mäch­tig, aber sie reichen nicht aus, um richtige Entscheidungen zu treffen. Sie sind meist sehr unbestimmt und leicht in die Irre zu führen und sie bringen uns oft in Dilemma-Situationen, in denen sich jede denk­bare Entscheidung als moralisch falsch herausstellt.

Zum anderen ist für das Zusammenleben in der Demokratie Moralkompetenz wichtig, die wir definieren als die Fähigkeit, Probleme und Kon­flikte auf der Grund­lage von (gefühlten) moralischen Prin­zipien zu lösen, und zwar durch eigenes Denken und durch Diskussion mit Anderen, also ohne Gewalt, Betrug oder Unterwerfung unter Andere (Lind 2016) Wie hoch oder niedrig unsere Moral­kompe­tenz ist, ist uns selten direkt bewusst. Ihre Höhe kann also nicht einfach abgefragt wer­den. Sie zeigt sich aber im Verhalten. Zum Beispiel zeigt sie sich sehr klar in Diskus­si­onen, wenn Teil­nehmer die Argumente von Unterstützern und Gegnern be­urteilen. Die meisten Menschen beurteilen Argu­mente nur nach deren Übereinstimmung (oder Nichtüber­einstimmung) mit der eigenen Meinung. Es fällt ihnen schwer, sie nach ihrer mora­lischen Qualität zu beurteilen, was aber unverzichtbar für einen demo­kratischen Diskurs ist (Habermas 1990). Der Grad, mit der Menschen die Argu­mente Anderer – unabhängig von ihrer Meinungskonformität – nach ihrer moralischen Qualität beurteilen kön­nen, hat sich als ein guter Indikator für Moralkompetenz erwiesen (Keasey 1974; Lind 2015).

Welchen Ein­fluss diese Fähigkeit auf unser Verhalten hat, konnte bis vor kurzem wis­sen­schaftlich nicht erforscht werden, weil dazu geeignete Instrumente fehlten. Die objektiven Messinstru­men­te, die uns vorlagen, waren ungeeignet (Lind 2015). Sie erlaubten nur fest­zu­stellen, wie gut das indi­vidu­elle Ver­halten bestimmte äußere, soziale Normen erfüllt. Sie er­laubten aber nicht festzu­stel­len, wie gut es den inneren Moral­prinzi­pien des Einzelnen ent­spricht. So genannte qualitative Methoden wie Kohl­bergs klinische Interview-Methode, konnte man inneren Beweg­gründen nach­gehen; aber sie waren nicht objektiv genug, um sub­jektive Verzerrungen der Daten durch den Forscher ausschließen zu können (Lind 1989).

Mit Hilfe des Moralische Kompetenz-Tests (MKT) ist es möglich geworden, moralisch-demokratische Orientierung und Kompetenz sowohl gültig als auch objektiv zu messen (Lind 2015, Kapitel 4). Der MKT macht beide Aspekte des Antwortverhaltens durch ein mehrfak­torielles Test-Design sichtbar und messbar. Der MKT gibt zwei Dilemma-Geschich­ten vor und lässt die Be­frag­ten eine Reihe von Argumente für und gegen die Entscheidungen be­urteilen. Die Argumen­te sind so gewählt, dass sie jedes eine bestimmte moralische Orientie­rung repräsentiert. Das Muster der Antworten auf den MKT lässt dadurch erkennen, ob und inwieweit die Befragten fähig sind, Argu­mente nach ihrer moralischen Qualität zu beurteilen, statt nach ihrer Meinungskonfor­mität.

Die Forschung mit Kohlbergs Interview-Methode und mit dem MKT hat übereinstim­mend ergeben, a) dass diese Fähigkeit sehr ungleich verteilt und insgesamt sehr niedrig ist, b) dass sie – wie das bei Fähigkeiten der Fall sein muss – nicht nach oben simuliert werden kann und c) dass sie kausal mit verschiedenen Demokratie-relevanten Verhaltensweisen und Fähig­keiten verknüpft ist (vgl. u. a. Kohlberg 1995; Lind 2015). Moralkompetenz bestimmt zum Beispiel in hohem Maße, ob Men­schen einen Ver­trag einhalten, ob sie in Prüfungssituationen ehrlich sind, ob sie ihre Lebens­probleme ohne Rück­griff auf Drogen zu lösen versuchen, ob sie Verbrechen anzeigen, auch wenn ihnen da­durch Nachteile drohen, ob sie Menschen in Not helfen, ob sie Anordnungen von Autoritäten kri­tisch prüfen, bevor sie ihre Anordnungen aus­zu­führen, ob sie in Dilemma­situationen schnell eine Lösung finden, ob sie Gewalt zur Durch­setzung ihrer politischen Ziele ein­setzen, und ob sie sich aktiv für die Einhaltung demokra­ti­sche Grundrechte einsetzen. Neue Stu­dien zeigen zu­dem, dass Menschen mit hoher Moral­kom­petenz sich Fakten besser merken kön­nen, bessere Noten in Mathe und Deutsch und eine bessere Durchschnittsnote im Abitur haben. Besonders wichtig für das Zusammenleben in einer Demokratie ist auch der Befund von Wasel (1994), dass Menschen die Moralkompetenz anderer Menschen umso genauer einschätzen können, je höher ihre eigene Moralkompetenz ist. In gewissem Sinne stimmt es also, dass ein Volk die Re­gie­rung hat, die es “verdient”. Aber auch das Umgekehrte scheint zuzutreffen: Wenn eine demo­kratische Regie­rung die Bildung ihrer Bürger vernachlässigt, bekommt sie ein Volk, das sich nach Autorität sehnt.

Moralkompetenz bedarf, wie unsere Muskeln, der Entwicklung durch Gebrauch. So wie unsere Muskeln sich nur entwickeln, wenn sie benutzt werden, entwickelt sich offen­bar auch diese Kompetenz nur in dem Maße, wie sie benutzt wird. Dabei spielen Zahl und Art der Ge­legen­hei­ten, die wir in unserer Umwelt vorfinden, eine entscheidende Rolle. Es sollten nicht zu wenige, aber auch nicht zu viele, nicht nur einfache, aber auch keine zu starken Probleme und Konflikte sein, die unsere Moralkompetenz auf die Probe stellen. Wo der optimale Be­reich liegt, schiebt sich, ähnlich wie auf anderen Gebieten, mit zunehmender Entwicklung der Moral­kompetenz in Richtung höherer Herausforderungen hinaus. Ab einem bestimmten Ent­wicklungs­stand ist der Einzelne selbst in der Lage, geeignete Lerngelegen­heiten aufzu­suchen und seine Moral­kompetenz selbst zu trainieren. Um diesen Entwicklungs­stand zu erreichen, sind die meisten Menschen, wie schon erwähnt, auf eine gute und aus­reichend lange Schul­bildung angewiesen. Was „gut“ heißt, wird nun näher zu untersuchen sein.

Der Autor
Georg Lind. Foto: Glenda Lind

Dr. Georg Lind, emeritierter apl. Professor der Psychologie, forscht und lehrt seit vier Jahrzehnten zur Frage, was Menschen dazu befähigt, Probleme und Konflikte durch Denken und Diskussion zu lösen, und wie man diese Fähigkeit messen und effektiv fördern kann. Er hat den Moral Competence Test (MCT) zur Messung dieser Fähigkeit und auch die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD), sowie ein Konzept zur Vermittlung dieser Methoden an Lehrkräfte entwickelt. Seine Methoden werden bereits weltweit eingesetzt, aber noch zu wenig, um die Demokratie nachhaltig zu sichern. Infos zu Literatur, Symposien und Fortbildung finden sich auf seiner Webseite: www.uni-konstanz.de/ag-moral/

Kontakt: georg.lind@uni-konstanz.de

Die rechtsstaatliche Demokratie ist eine hoch komplexe Staatsform, deren Regeln erlernt werden müssen – aber wie?

 

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