BERLIN. Moral ist in der Politik fast zum Schimpfwort verkommen. Rechte sprechen abfällig von “Gutmenschen”, wenn sie politische Gegner als dumm, naiv und weltfremd darstellen wollen. Der Thüringer AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke nannte Kritiker, die sich am Wochenende über AfD-Parteichef Alexander Gauland und dessen Charakterisierung der NS-Zeit als “Vogelschiss” empörten, “Hypermoralisten, die jetzt wieder aufschreien” – allerdings nicht, ohne für sich selbst die Moral zu reklamieren: “Diese Herrschaften haben in meinen Augen jedes Recht verwirkt, sich moralisch über AfD-Politiker zu äußern“. Das können offenbar nur AfD-Politiker selbst.
Tatsächlich, so meint der renommierte Psychologe und Bildungswissenschaftler Georg Lind, kommt die Politik nicht ohne (echte) Moral aus – und die Demokratie-Erziehung in der Schule nicht ohne die Entwicklung von Moralkompetenz. Was ist das? Der folgende Beitrag, der dritte Teil einer vierteiligen Reihe zum Thema auf News4teachers, klärt auf.
Demokratie-Erziehung: Auf die Moralkompetenz kommt es an
Wenn Demokratie ein moralisches Ideal ist, dann braucht der Mensch in einer Demokratie nicht nur allgemein Bildung, sondern auch eine spezielle Bildung, die ihn dazu befähigt, seine eigenen Interessen zu artikulieren und die Interessen anderer zu erkennen und gegeneinander abzuwägen, sowie die dabei auftretenden Probleme und Konflikte friedlich, durch Denken und Diskussion zu lösen. Dies ist, was wir als Moralkompetenz bezeichnen (Lind 2015). Moralkompetenz ist eine sehr gut erforschte Fähigkeit, die einfach zu messen ist und zu der es inzwischen effektive und lehrbare Unterrichtsmethoden gibt. Sie ist also etwas anderes als die „sozialen“ oder „emotionalen“ Kompetenzen, von denen viel die Rede ist, bei denen aber meist nicht klar ist, was sie konkret bedeuten und wie sie im Unterricht wirksam gefördert werden können.
Moralkompetenz ist nicht angeboren. Anders als die moralisch-demokratischen Ideale, die uns angeboren scheinen, muss sie sich entwickeln können. Sie entwickelt sich durch Gebrauch, das heißt, ihre Entwicklung ist abhängig davon, dass wir mit Herausforderungen konfrontiert werden, die unsere Fähigkeiten fordern, aber nicht überfordern. Viele Kinder finden zu wenige solche Lerngelegenheiten in der Umwelt, in der sie aufwachsen (Lind 2006). Eltern geben ihren Kindern solche Lerngelegenheiten, soweit sie die Zeit dazu finden und das tun können. Es tun eher die Eltern, die ihrerseits genügend Bildung genießen durften (Speicher 1994). Die Entwicklung von Moralkompetenz ist daher bei den meisten Kindern auf die Hilfestellung durch die Schule angewiesen.
Offenbar leisten das viele Schulen und Lehrpersonen bei uns, obwohl dieses “Fach” bis heute weder in der Lehrerausbildung noch im Stundenplan vorkommt. Umfang und Qualität von Schulbildung ist der mit Abstand stärkste Faktor für die Entwicklung der Moralkompetenz. Zusammenhänge mit sozialer Schicht, kulturellem Hintergrund und Geschlecht, wie sie manchmal berichtet werden, sind dagegen deutlich geringer und verschwinden oft, wenn man den Anteil, den Bildung an diesem Zusammenhang hat, heraus rechnet (Lind 2002).
Angesichts der großen Herausforderungen unserer heutigen Zeit (wie soziale Ungleichheit, technischer Wandel, Immigration, Inklusion von Behinderten, Umweltverschmutzung, Artensterben, bewaffnete Konflikte, Terrorismus, Fremdenfeindlichkeit, Drogensucht) reichen die Gelegenheiten zur moralisch-demokratischen Entwicklung, die Schulen heute bieten, jedoch nicht aus und sie sind nicht nachhaltig. Sie reichen nicht aus, weil sie meist vom individuellen Einsatz der Lehrer und von den Freiräumen abhängen, die Leistungsdruck und Schulaufsicht ihnen lassen. Viel zu viele Schüler haben am Ende der Schulzeit noch nicht einmal das Minimum an Moralkompetenz erreicht, das notwendig ist, um Probleme und Konflikte im Alltag durch Denken und Diskussion zu lösen.
Die Moralerziehung an unseren Schulen ist auch nicht nachhaltig. Viele Schüler erreichen nicht den Grad an Moralkompetenz, der notwendig ist, um später alleine Lerngelegenheiten aufzusuchen und sich dadurch selbst weiter zu entwickeln. Menschen mit geringer Moralkompetenz empfinden viele Entscheidungssituationen nicht als Lerngelegenheiten, sondern als bedrohlich, weil diese sie überfordern. Die Vermeidung solcher Gelegenheiten aber lässt ihre Moralkompetenz weiter verkümmern. Dieses Regressionsphänomen findet sich bei fast allen Kindern, die weniger als zwölf Jahre Schulbildung bekommen haben (Lind 2002). Bei Erwachsenen treten Regressionen der Moralkompetenz dann auf, wenn sie in ihrem Lebensraum zu wenig Gelegenheit zu deren Gebrauch bekommen, wie das oft bei Strafgefangenen (Hemmerling 2014), aber auch bei Medizinstudierenden (Schillinger 2006) der Fall ist.
Moralisch-demokratische Kompetenz wächst nicht von allein
Die Forschung zu Moral- und Demokratiepsychologie der letzten Jahrzehnte hat wichtige neue Erkenntnisse über die Natur, Messbarkeit, Relevanz, Entwicklung und Lehrbarkeit der Moral erbracht, die den Weg für eine neue Ausrichtung der Demokratie-Erziehung wiesen (Lind 2002; 2015; 2017a; 2017b). Wir wissen jetzt, dass für demokratisch kompetentes Verhalten zwei verschiedene Aspekte moralischer Gefühle wichtig sind: Zum einen der zentrale Aspekt der Orientierung. Die Orientierung an demokratische Moralprinzipien wie Gerechtigkeit, Freiheit und Kooperation ist für moralisches Verhalten unabdingbar. Sie muss uns jedoch nicht beschäftigen: Sie ist uns aber angeboren und tief in unseren Gefühlen verankert – so dass sie uns nicht erst durch Erziehung vermittelt werden muss. Zum anderen ist es der kognitive Aspekt der Fähigkeit, gemäß solcher Orientierungen zu handeln. Diese gefühlten Moralprinzipien sind mächtig, aber sie reichen nicht aus, um richtige Entscheidungen zu treffen. Sie sind meist sehr unbestimmt und leicht in die Irre zu führen und sie bringen uns oft in Dilemma-Situationen, in denen sich jede denkbare Entscheidung als moralisch falsch herausstellt.
Zum anderen ist für das Zusammenleben in der Demokratie Moralkompetenz wichtig, die wir definieren als die Fähigkeit, Probleme und Konflikte auf der Grundlage von (gefühlten) moralischen Prinzipien zu lösen, und zwar durch eigenes Denken und durch Diskussion mit Anderen, also ohne Gewalt, Betrug oder Unterwerfung unter Andere (Lind 2016) Wie hoch oder niedrig unsere Moralkompetenz ist, ist uns selten direkt bewusst. Ihre Höhe kann also nicht einfach abgefragt werden. Sie zeigt sich aber im Verhalten. Zum Beispiel zeigt sie sich sehr klar in Diskussionen, wenn Teilnehmer die Argumente von Unterstützern und Gegnern beurteilen. Die meisten Menschen beurteilen Argumente nur nach deren Übereinstimmung (oder Nichtübereinstimmung) mit der eigenen Meinung. Es fällt ihnen schwer, sie nach ihrer moralischen Qualität zu beurteilen, was aber unverzichtbar für einen demokratischen Diskurs ist (Habermas 1990). Der Grad, mit der Menschen die Argumente Anderer – unabhängig von ihrer Meinungskonformität – nach ihrer moralischen Qualität beurteilen können, hat sich als ein guter Indikator für Moralkompetenz erwiesen (Keasey 1974; Lind 2015).
Welchen Einfluss diese Fähigkeit auf unser Verhalten hat, konnte bis vor kurzem wissenschaftlich nicht erforscht werden, weil dazu geeignete Instrumente fehlten. Die objektiven Messinstrumente, die uns vorlagen, waren ungeeignet (Lind 2015). Sie erlaubten nur festzustellen, wie gut das individuelle Verhalten bestimmte äußere, soziale Normen erfüllt. Sie erlaubten aber nicht festzustellen, wie gut es den inneren Moralprinzipien des Einzelnen entspricht. So genannte qualitative Methoden wie Kohlbergs klinische Interview-Methode, konnte man inneren Beweggründen nachgehen; aber sie waren nicht objektiv genug, um subjektive Verzerrungen der Daten durch den Forscher ausschließen zu können (Lind 1989).
Mit Hilfe des Moralische Kompetenz-Tests (MKT) ist es möglich geworden, moralisch-demokratische Orientierung und Kompetenz sowohl gültig als auch objektiv zu messen (Lind 2015, Kapitel 4). Der MKT macht beide Aspekte des Antwortverhaltens durch ein mehrfaktorielles Test-Design sichtbar und messbar. Der MKT gibt zwei Dilemma-Geschichten vor und lässt die Befragten eine Reihe von Argumente für und gegen die Entscheidungen beurteilen. Die Argumente sind so gewählt, dass sie jedes eine bestimmte moralische Orientierung repräsentiert. Das Muster der Antworten auf den MKT lässt dadurch erkennen, ob und inwieweit die Befragten fähig sind, Argumente nach ihrer moralischen Qualität zu beurteilen, statt nach ihrer Meinungskonformität.
Die Forschung mit Kohlbergs Interview-Methode und mit dem MKT hat übereinstimmend ergeben, a) dass diese Fähigkeit sehr ungleich verteilt und insgesamt sehr niedrig ist, b) dass sie – wie das bei Fähigkeiten der Fall sein muss – nicht nach oben simuliert werden kann und c) dass sie kausal mit verschiedenen Demokratie-relevanten Verhaltensweisen und Fähigkeiten verknüpft ist (vgl. u. a. Kohlberg 1995; Lind 2015). Moralkompetenz bestimmt zum Beispiel in hohem Maße, ob Menschen einen Vertrag einhalten, ob sie in Prüfungssituationen ehrlich sind, ob sie ihre Lebensprobleme ohne Rückgriff auf Drogen zu lösen versuchen, ob sie Verbrechen anzeigen, auch wenn ihnen dadurch Nachteile drohen, ob sie Menschen in Not helfen, ob sie Anordnungen von Autoritäten kritisch prüfen, bevor sie ihre Anordnungen auszuführen, ob sie in Dilemmasituationen schnell eine Lösung finden, ob sie Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele einsetzen, und ob sie sich aktiv für die Einhaltung demokratische Grundrechte einsetzen. Neue Studien zeigen zudem, dass Menschen mit hoher Moralkompetenz sich Fakten besser merken können, bessere Noten in Mathe und Deutsch und eine bessere Durchschnittsnote im Abitur haben. Besonders wichtig für das Zusammenleben in einer Demokratie ist auch der Befund von Wasel (1994), dass Menschen die Moralkompetenz anderer Menschen umso genauer einschätzen können, je höher ihre eigene Moralkompetenz ist. In gewissem Sinne stimmt es also, dass ein Volk die Regierung hat, die es “verdient”. Aber auch das Umgekehrte scheint zuzutreffen: Wenn eine demokratische Regierung die Bildung ihrer Bürger vernachlässigt, bekommt sie ein Volk, das sich nach Autorität sehnt.
Moralkompetenz bedarf, wie unsere Muskeln, der Entwicklung durch Gebrauch. So wie unsere Muskeln sich nur entwickeln, wenn sie benutzt werden, entwickelt sich offenbar auch diese Kompetenz nur in dem Maße, wie sie benutzt wird. Dabei spielen Zahl und Art der Gelegenheiten, die wir in unserer Umwelt vorfinden, eine entscheidende Rolle. Es sollten nicht zu wenige, aber auch nicht zu viele, nicht nur einfache, aber auch keine zu starken Probleme und Konflikte sein, die unsere Moralkompetenz auf die Probe stellen. Wo der optimale Bereich liegt, schiebt sich, ähnlich wie auf anderen Gebieten, mit zunehmender Entwicklung der Moralkompetenz in Richtung höherer Herausforderungen hinaus. Ab einem bestimmten Entwicklungsstand ist der Einzelne selbst in der Lage, geeignete Lerngelegenheiten aufzusuchen und seine Moralkompetenz selbst zu trainieren. Um diesen Entwicklungsstand zu erreichen, sind die meisten Menschen, wie schon erwähnt, auf eine gute und ausreichend lange Schulbildung angewiesen. Was „gut“ heißt, wird nun näher zu untersuchen sein.
- Teil 1: Demokratie als moralisches Ideal
- Teil 2: Demokratie bedarf Allgemeinbildung
- Teil 3: Auf Moralkompetenz kommt es an
- Teil 4: Welche Methode? (Literaturangaben)
Dr. Georg Lind, emeritierter apl. Professor der Psychologie, forscht und lehrt seit vier Jahrzehnten zur Frage, was Menschen dazu befähigt, Probleme und Konflikte durch Denken und Diskussion zu lösen, und wie man diese Fähigkeit messen und effektiv fördern kann. Er hat den Moral Competence Test (MCT) zur Messung dieser Fähigkeit und auch die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD), sowie ein Konzept zur Vermittlung dieser Methoden an Lehrkräfte entwickelt. Seine Methoden werden bereits weltweit eingesetzt, aber noch zu wenig, um die Demokratie nachhaltig zu sichern. Infos zu Literatur, Symposien und Fortbildung finden sich auf seiner Webseite: www.uni-konstanz.de/ag-moral/
Kontakt: georg.lind@uni-konstanz.de