August 2017. Niedersachsens Kultusministerin Frauke Heiligenstadt verteidigte die Abordnungen von Lehrern an andere Schulen. «Die Lage ist nicht einfach, aber deshalb sind alle gefordert», sagte die SPD-Politikerin im Kultusausschuss des niedersächsischen Landtages. Abordnungen seien ein klassisches Instrument, um Engpässe bei der Unterrichtsversorgung zu überbrücken. Als befristete Maßnahme seien sie durchaus vertretbar. Der Philologenverband spricht dagegen von „planerischer Inkompetenz“. Zehn Tage nach Schuljahresbeginn sei noch immer kein geregelter Unterricht möglich.
Januar 2018. Mittlerweile ist mit Grant Hendrik Tonne (SPD) ein neuer Kultusminister im Amt. Er kündigt an, er wolle die „Abordnungskarawanen“ stoppen. An den Schulen in Niedersachsen würden zwar auch im zweiten Halbjahr Lehrer „in erheblichem Umfang“ an andere Schulen abgeordnet, so kündigt er an. Ihm sei klar, dass dies eine große Zumutung und Belastung für alle Lehrkräfte sei. „Wir stellen jetzt noch quasi täglich neue Lehrkräfte ein.“ Er hoffe, dass sich die Situation im Sommer normalisiere.
Juli 2018. Eine Antwort der niedersächsischen Landesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der FDP-Landtagsfraktion zeigt auf, dass sich die Hoffnung des Ministers zerschlagen hat: Nach Angaben des Ministeriums müssen im neuen Schuljahr nach derzeitigem Stand statt bisher schon knapp 5.500 Stunden nunmehr etwa 8.700 Stunden vom Gymnasium an andere Schulformen abgeordnet werden, was einer Steigerung von 58 Prozent entspricht. Dabei bleibt die Zahl der Abordnungen an die Grundschulen auf dem gleichen hohen Stand wie im Vorjahr, bei den Abordnungen an Gesamtschulen steigt sie aber um 89 Prozent und an Haupt-, Real- und Oberschulen sogar um 106 Prozent.
Der Niedersächsische Philologenverband schäumt – und erklärt, dass „die Öffentlichkeit bisher durch das Kultusministerium in geradezu skandalöser Weise über die wahren Ausmaße von Lehrerabordnungen von den Gymnasien an andere Schulformen auch für das kommende Schuljahr getäuscht worden ist“. Philologen-Landesvorsitzender Horst Audritz erklärte. „Auf gemeinsamen Druck von FDP und Philologenverband musste der Kultusminister jetzt mit Zahlen ans Tageslicht kommen, die angesichts seiner monatelangen öffentlichen Beteuerungen, die Abordnungen würden im neuen Schuljahr massiv gesenkt und praktisch beendet, fassungslos machen: Das Ausmaß der Abordnungen wird im kommenden Schuljahr nochmals deutlich erhöht und damit schlimmer sein als bisher schon, was einem Offenbarungseid des Ministers gleichkommt.“
Tonne hatte in im Juni erklärt, nicht über verlässliche Zahlen zu verfügen, weil die Einstellungsverfahren noch liefen. „Der Minister und sein Haus verstricken sich immer weiter in Verschleierungsversuchen und Schönrederei bar jeder Realität. Wie kann es sein, dass das Ministerium mit den dortigen personellen wie methodischen Möglichkeiten keine belastbaren Zahlen erheben kann, wenn der Philologenverband die jetzt eintretende Entwicklung nahezu exakt prognostiziert hat“, fragte Audritz. Der Minister habe schon im ersten Amtsjahr mit diesen statistischen Ränkespielchen zulasten der Lehrer und Schüler seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt.
Auch der Verband Niedersächsischer Lehrkräfte (VNL/VDR) kritisiert die Abordnungspraxis des Kultusministeriums scharf. Wie bereits zum letzten Schuljahr versuche das Kultusministerium die anhaltende Unterrichtsmisere durch Abordnungen von einer Schulform an die andere zu beheben. „Entgegen den Ankündigungen unseres Kultusministers hat sich bislang nichts an dieser Praxis geändert. Das Abordnungskarussell dreht sich munter weiter“, sagte VNL/VDR-Vorsitzender Torsten Neumann. „Die nichtgymnasialen Schulen wie Ober-, Real- und Hauptschulen müssen ebenfalls an Grundschulen Lehrkräfte abordnen. Deshalb müssen wiederum Gymnasiallehrkräfte an diese Schulen geschickt werden, um das dadurch entstandene Unterrichtsfehl zu beheben. Oft sei ein für beide Seiten sinnvoller Einsatz nur schwer zu bewerkstelligen. So darf es nicht weitergehen.“
“Nicht sachgerecht”
Auch der Philologenverband zieht den Sinn vieler Abordnungen in Zweifel. „Momentan werden die Abordnungen erneut aufgrund des Vergleichs der rein statistischen Unterrichtsversorgung durchgeführt. Das ist jedoch nicht sachgerecht“, betont Audritz. Manche Schulen könnten die zu ihnen abgeordneten Lehrer im Unterricht gar nicht einsetzen, weil es dort keinen realen Bedarf gebe. „Hierbei handelt es sich nicht etwa um Einzelfälle, wir haben von nicht wenigen Gymnasien die Rückmeldung, dass ihre Abordnungen als unnötig bezeichnet und sogar zurückgewiesen wurden“, so Audritz. An Gymnasien hingegen müssten „pädagogisch unsinnige Klassenzusammenlegungen vorgenommen werden“, werde Pflichtunterricht gekürzt falle ganz aus und Ganztagsangebote und AGs sowie Fördermaßnahmen würden erheblich eingeschränkt oder gestrichen. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus