BRAUNSCHWEIG. Schüler mit Legasthenie und/oder Dyskalkulie stecken häufig in einem Abwärtsstrudel fest: Sie üben, oft viel mehr als ihre Klassenkameraden – und sehen diese doch davonziehen. Jeder Test wird zur Niederlage. Um trotzdem die Lernmotivation zu erhalten und betroffenen Schülern Zeit zu geben, durch gezielte Förderung die notwendigen Basiskompetenten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen zu erwerben, muss ein individueller Nachteilsausgleich die Situation entschärfen. Wie der aussehen kann, darüber herrscht allerdings oft Unklarheit. Der folgende Beitrag, der zunächst in der Zeitschrift “Grundschule” erschienen ist, gibt einen Überblick.
Chancengleichheit schaffen
Verwaltungsvorschriften sehen zwei Kategorien von Maßnahmen zugunsten von Schülern mit Legasthenie und Dyskalkulie vor: Erleichterungen – oder Notenschutz.
Trotz guter Begabung gelingt es einigen Kindern nicht oder nur sehr verlangsamt, die geforderten Kompetenzen im Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen zu erbringen und bleiben mit ihren Leistungen deutlich unter dem Klassendurchschnitt. Anderen Kindern gelingt es durch intensives Lernen und Auswendiglernen, zumindest in den ersten beiden Klassenstufen, gute oder befriedigende Ergebnisse zu erzielen, fallen aber mit zunehmenden Anforderungen in den höheren Klassen deutlich zurück. Erst mit den sich zeigenden Auffälligkeiten von Lernschwierigkeiten werden Interventionsmaßnahmen ergriffen, die leider oftmals weit hinter den notwendigen Unterstützungsmaßnahmen zurück bleiben. Lehrermangel, nicht ausreichende Förderqualifizierung oder fehlende finanzielle Mittel für Fördermaterialien führen dazu, dass Kindern mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie nicht ausreichend geholfen werden kann.
Warum reicht Förderung allein nicht aus?
Oftmals sind Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie, trotz intensiver Fördermaßnahmen, in der 4. Klasse noch auf dem Niveau eines Erst- oder Zweitklässlers. Der seelische Druck, der auf diesen Kindern lastet, wenn sie dem Unterricht nicht folgen und im Mathematikunterricht noch nicht einmal eine mündliche Leistung erbringen können, ist immens. Rund 40 Prozent aller Kinder mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie entwickeln psychosomatische Folgeerkrankungen, weil sie sich den schulischen Anforderungen nicht gewachsen fühlen. Sie sind fleißig, üben wesentlich mehr als andere Kinder und erleben immer wieder bei Prüfungen eine Niederlage.
Die Lernfortschritte, die sie durch eine gute Förderung erzielen, sind in den meisten Fällen nur in Ansätzen sichtbar, reichen aber nicht aus, um den Klassenanforderungen gewachsen zu sein. Letztendlich führt das bei vielen Schülerinnen und Schülern dazu, dass sie im Üben keinen Sinn sehen, weil sie sich in den Noten nicht verbessern. Und genau hier muss ein individueller Nachteilsausgleich die Situation entschärfen, um bei den Schülerinnen und Schülern die Lernmotivation zu erhalten und ihnen Zeit zu geben, durch gezielte Förderung die notwendigen Basiskompetenten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen zu erwerben.
Dieser Beitrag und weitere zum Thema Legasthenie und Dyskalkulie sind in der Zeitschrift “Grundschule” mit dem Titel “Probleme richtig deuten” erschienen. Hier lässt sich das Heft bestellen oder lassen sich einzelne Beiträge herunterladen (kostenpflichtig).
Teilleistungsstörungen erschweren den Lernprozess von Kindern erheblich: Bei Dyskalkulie fehlt ihnen das nötige Mengenverständnis und die Zählfertigkeiten, um Grundrechenarten zu erlernen. Bei Legasthenie bleibt die Schrift lange ein “Code”, der kaum zu entschlüsseln ist. Werden solche Teilleistungsstörungen nicht rechtzeitig erkannt, kämpfen die Kinder häufig mit schlechten Noten, Klassenwiederholungen und einem geringen Selbstwertgefühl. Daher sollten betroffene Schülerinnen und Schüler möglichst früh gefördert werden – schulisch und außerschulisch. Wie Grundschulen mit dieser Herausforderung umgehen, welche Fördermöglichkeiten es gibt und wie die richtige Diagnose überhaupt gelingt, beantwortet diese Ausgabe der “Grundschule”.
Was ist ein Nachteilsausgleich und wie kann er gestaltet werden?
Der Nachteilsausgleich ist ein sehr komplexes Thema. Er ist ein Rechtsanspruch, der in verschiedenen Gesetzen geregelt wurde. Maßgeblich sind die Landesschulgesetze, Verwaltungsvorschriften und Erlasse. Aber auch wenn keine gesetzliche Regelung besteht, wird der Nachteilsausgleich durch das Grundgesetz, Art. 12 GG in Verbindung mit Art. 3 GG (Gleichheitsgrundsatz), garantiert.
Bei einer Legasthenie oder Dyskalkulie handelt es sich um eine Beeinträchtigung, die Betroffene ein Leben lang begleitet. Man lernt im Laufe des Lebens aber Kompensationsstrategien, die es einem leichter machen, mit der Schwäche umzugehen. Für Erwachsene ist es ganz selbstverständlich, einen PC mit Rechtschreibkorrektur oder einen Taschenrechner zu nutzen. In der Schulzeit ist es bisher eher die Ausnahme.
Es gibt Kinder mit einer Legasthenie, die nur Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung, aber nicht mit dem Lesen haben. Sie brauchen daher keine Unterstützung beim Lesen, sondern nur für die Rechtschreibleistung. Es gibt auch nicht „die Legasthenie“ oder „die Dyskalkulie“, sondern auch hier sind die Ausprägungen und Schweregrade sehr unterschiedlich. Man muss immer genau schauen, was der Einzelne braucht, um sein individuelles Handicap bestmöglich auszugleichen. Aus diesem Grund sind die folgenden Listen hilfreich, individuell zu prüfen, welche Beeinträchtigungen bei den Kindern vorliegen und wie sie am besten ausgeglichen werden können.
Aus welchen Gesetzen leiten sich die Ansprüche auf einen Nachteilsausgleich ab?
In den Erlassen und Rechtsverordnungen der Länder sollte es Regelungen zum Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit einer Legasthenie und Dyskalkulie geben, was bis heute leider noch nicht in allen Ländern der Fall ist. Man spricht in den meisten Ländern sowie auch in der KMK-Empfehlung für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen von Kindern mit besonderen Schwierigkeiten, ohne auf die unterschiedlichen Ursachen und damit auch unterschiedlichen Maßnahmen einzugehen.
In den meisten Fällen sehen die Verwaltungsvorschriften beziehungsweise Erlasse zwei Kategorien von Maßnahmen zugunsten von Schülern mit Legasthenie und Dyskalkulie vor. Man spricht einerseits von „Maßnahmen des Nachteilsausgleichs“ oder kurz „Nachteilsausgleich“. Hier finden sich dann Maßnahmen wie zum Beispiel die Gewährung einer Schreibzeitverlängerung und die Zurverfügungstellung von Hilfsmitteln wie Arbeitsblätter mit großer Schrift. Andererseits spricht man von „Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung und -bewertung“. Darunter fallen insbesondere Maßnahmen wie „Notenschutz“, zum Beispiel eine geringere Gewichtung bis hin zur Nichtberücksichtigung der Rechtschreibleistung (teils in allen, teils in ausgewählten Fächern) oder einer stärkeren Gewichtung der mündlichen gegenüber den schriftlichen Leistungen.
Bis heute fehlen in allen Bundesländern ausreichende schulrechtliche Regelungen für Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie. Die Situation ist für Kinder mit einer Dyskalkulie besonders fatal, weil es nur in Baden-Württemberg, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern schulrechtliche Regelungen bei Schwierigkeiten im Rechnen gibt und diese in den meisten Fällen mit der Grundschulzeit enden.
Wichtig: Für Schülerinnen und Schüler mit Legasthenie und Dyskalkulie bestehen verfassungsrechtliche Ansprüche auf einen Nachteilsausgleich, die sich unmittelbar aus dem Grundgesetz ableiten und gelten für alle Bundesländer unabhängig davon, was in den einzelnen Schulgesetzen, Rechtsverordnungen oder Verwaltungsvorschriften festgelegt ist. Annette Höinghaus
