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“Weder reif noch willens, pünktlich Ausbildungsplätze aufzusuchen”: CDU-Wirtschaftsrat beklagt Unfähigkeit von Schulabgängern

HANNOVER. Mit einem bemerkenswerten Schreiben ist der Wirtschaftsrat der CDU, Landesverband Niedersachsen, an die Öffentlichkeit getreten. Darin wird Schulabsolventen pauschal gravierende Bildungslücken und Erziehungsdefizite unterstellt. „Die Wirtschaftsunternehmen Niedersachsens – und mit Verlaub auch der öffentliche Dienst auf allen Ebenen – zeigen deutliche Tendenzen auf, die im Ergebnis leider von wenig Qualität in der schulischen Bildung berichten“, so heißt es. Versagen also Eltern und Schulen in so breiter Front, dass sogar die Arbeitsfähigkeit von Betrieben und Verwaltungen in Gefahr ist?

Schulabgänger in Deutschland – faul und nur am Handy interessiert? (Symbolfoto) Foto: Shutterstock

Der Text ist krass – und auch politisch interessant, stellt doch die CDU in Niedersachsen immerhin den Juniorpartner in der rot-schwarzen Regierungskoalition (und mit Bernd Althusmann einen ehemaligen niedersächsischen Kultusminister als Vize-Ministerpräsidenten). Den Wirtschaftsrat der CDU ficht das nicht an. Die Unternehmen beklagten „seit Jahren“, dass es „massiv“ an der Anschlussfähigkeit der Schülerinnen und Schüler mangele, so teilt Thorsten Bund, Vorsitzender der Landesfachkommission Bildung des Verbands, mit.

Mit Blick auf Schulabgänger erklärt er: „Sie verfügen häufig weder über ausreichend mathematische oder orthografische Grundkenntnisse, noch über angemessene Lesekompetenzen, die zwingend zum Beginn einer Ausbildung benötigt werden. Über die mangelnden lebenspraktischen Kenntnisse und Fertigkeiten möchte sich in der Öffentlichkeit kaum jemand äußern: Die lieben Kleinen sind zwar von Rechts wegen volljährig und wahlberechtigt, aber leider sind sie in der Masse weder reif noch willens, pünktlich ihre Ausbildungsplätze aufzusuchen. Dass auch ein Smartphone über eine Weckfunktion verfügt, ist ihnen gänzlich fremd. Es wird viel mehr zur nonverbalen Kommunikation genutzt, die allerdings wenig aufs Leben vorbereitet.“

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Der Rundumschlag trifft ausdrücklich auch Abiturienten. „Betrachten wir die Studienanfänger, so beklagen Dozenten auch hier häufig mangelnde Studierfähigkeit, weil unter anderem weder das große Einmaleins beherrscht wird, noch die einfache Wiedergabe eines Versuchsaufbaus gelingt.“ Belege für die Behauptungen werden nicht geliefert.

Keine empirischen Befunde

Empirisch gibt es keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Niedersachsens Schülerschaft besonders unfähig wäre (siehe Beitrag unten). Auch die Industrie- und Handelskammer (IHK) Niedersachsen vermittelt ein komplett anderes Bild. „Die Duale Berufsausbildung ist für die Fachkräftegewinnung ein Erfolgsmodell“, sagt IHK-Hauptgeschäftsführer Horst Schrage. „Ein Großteil der Ausgelernten bleibt der niedersächsischen Wirtschaft als qualifizierte Arbeitnehmer erhalten und sichert damit den Fachkräftebedarf.“ Laut einer aktuellen Umfrage unter Auszubildenden erhielten knapp 72 Prozent von ihrem Ausbildungsbetrieb ein Übernahmeangebot, drei von vier Auszubildenden nehmen das Angebot an. Das heißt, mehr als jeder zweite Auszubildende bleibt dem Unternehmen auch nach seiner Ausbildung erhalten. Diejenigen, die nicht im Ausbildungsunternehmen bleiben, wechseln häufig in ein anderes Unternehmen oder beginnen ein Studium.

Anlass der Pressemitteilung des Wirtschaftsrats: ein Auftritt von Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) vor dem Verband der Elternräte der Gymnasien Niedersachsens, bei dem Tonne betont habe, dass das niedersächsische Abitur hohen Ansprüchen genüge und die Prüfungen hinreichend und umfangreich sein. Der Kultusminister erkenne nach eigenen Angaben weder das Risiko eines „Abitur-Light“, noch dass die Gefahr drohe, dass das Abitur qualitativ abdriften könne.

„Hier sollen nun beileibe nicht die Lehrkräfte kritisiert werden und schon gar nicht die, die sich regelrecht opfern, um annähernd Unterrichtsqualität an die jungen Menschen zu bringen. Aus unserer Sicht kann auch den jungen Menschen kein Vorwurf für die aktuelle Situation gemacht werden, letztendlich haben wir alle als Gesellschaft für diese Situation gesorgt“, so heißt es nun beim Wirtschaftsrat. „Umso mehr sind wir als Gemeinschaft gefordert, umfassend Programme zu entwickeln, die gesellschaftspolitisch für eine andere Basis sorgen: Die Unternehmen in Niedersachsen fordern eine prozessorientierte Bildungsreform, die auf allen Ebenen die handelnden Personen in den maßgeblichen Bildungseinrichtungen (Kitas, Regelschulen, Sonderpädagogischen Schulen, Berufs- und Hochschulen, Universitäten) entlastet und im Schulterschluss mit der Wirtschaft Konzepte entwickelt, die schlussendlich Kontinuität in der Bildung sicherstellen.“ Heißt: die vom Wirtschaftsrat vertretenen Unternehmen wollen mitreden.

Ganz praktisch fällt ihnen dazu eins ein, was sie erreichen wollen: mehr Diktate in der Grundschule. bibo / Agentur für Bildungsjournalismus

Niedersachsen: Voll im Durchschnitt

Beim aktuellen Bildungsmonitor, einem Bundesländervergleich des Instituts der Deutschen Wirtschaft im Auftrag der wirtschaftsnahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, schneidet Niedersachsen durchschnittlich ab – Platz acht unter den 16 Bundesländern. In den Überblick fließen Daten aus allen relevanten Bildungsstudien und -statistiken ein. Immerhin: „Niedersachsen hat sich im Fünfjahresvergleich am fünftstärksten verbessert.“

Dabei wird lobend erwähnt, dass das Bundesland überdurchschnittlich viel Geld für seine Bildung aufwendet – gerade in die Grundschulen und die Berufsschulen werde viel investiert. „Schultests zeigen: Der generelle Zusammenhang zwischen sozialer  Herkunft  der  Eltern  und Bildungserfolg  der  Kinder  ist  in  Niedersachsen vergleichsweise gering – Niedersachsen erreicht beim KMK-Test aus dem Jahr 2015 im Lesen den Bestwert beziehungsweise viertbesten Wert aller Bundesländer . Bei der Förderung ausländischer Schüler besteht aber Nachholbedarf: Beim Anteil ausländischer Schulabgänger ohne Abschluss schneidet Niedersachsen vergleichsweise schlecht ab (Niedersachsen: 16,3 Prozent, Bundesdurchschnitt: 14,2 Prozent).“

Das Thema wird auch auf der Facebook-Seite von News4teachers diskutiert.

Und immer ist die Schule schuld: Das Märchen vom sinkenden Bildungsniveau in Deutschland

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