HANNOVER. Immer mehr Schulen in Deutschland sehen sich unter den derzeit herrschenden Bedingungen nicht in der Lage, behinderte und nicht-behinderte Schüler im bisherigen Umfang gemeinsam zu unterrichten. So haben die Leitungen der Gesamtschulen in Hannover in einem gemeinsamen Brandbrief angekündigt, nur noch die Hälfte der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufzunehmen. In Essen steigen die vier Gymnasien, die bislang dort inklusiv unterrichtet haben, komplett aus. Die Ursache hier wie dort: Überlastung.
Der Brief sei an die Stadt und an die Landesschulbehörde gerichtet, so berichtet die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“: Darin kündigen die Gesamtschulen an, ab Sommer beim Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule nur noch 1,5 der Förderschüler pro Klasse (statt bislang drei) aufzunehmen. Die Gesamtschulen seien am Limit, weil sie zurzeit die Hauptlast bei Förderschülern und Schulwechslern stemmten, erklärte ein Sprecher gegenüber dem Blatt. Die Schulleiter erzürnt, dass die Gymnasien in Hannover bislang kaum Förderschüler aufnehmen.
Eine Situation, wie sie auch in Essen bald eintreten wird. Der Verband der Gesamtschulen (GGG) schlägt bereits Alarm. Nachdem zunehmend Gymnasien wegen Personallücken notgedrungen auf den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern verzichten, müssten nun die Gesamtschulen sowie Haupt- und Realschulen die ganze Last stemmen, sagt Rainer Dahlhaus vom GGG-Landesvorstand gegenüber der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“. Die Bevorzugung der Gymnasien bei der Inklusion sei nicht hinnehmbar. In einer ausreichenden Finanzierung der Inklusion sieht er „eine Gerechtigkeitsfrage“.
“Finger in die Wunde”
Der Philologenverband Niedersachsen, der Gymnasiallehrer vertritt, äußert Verständnis für den Brandbrief der Schulleitungen. „Mit ihrer Kritik an der bisherigen Ausgestaltung der Inklusion an allen Schulformen legen die Integrierten Gesamtschulen Hannovers einmal mehr den Finger in die Wunde gravierender Inklusionsmängel“, sagt Landesvorsitzender Horst Audritz. „Die Inklusion wird einseitig auf die Lehrkräfte abgeladen, ohne hinreichende Unterstützungsleistungen wie beispielsweise durch Schulbegleiter oder Förderschullehrer, zu gewähren. Dies alles führt dazu, dass der Unterricht an den Schulen einer individuellen Förderung sowohl leistungsschwacher als auch leistungsstarker Schüler nicht mehr gerecht werden kann. Das gilt insbesondere für die Grundschulen, die die größte Zahl von Inklusionsschülern aller Schulformen haben.“
Auch vom Verband Niedersächsischer Lehrkräfte VNL /VDR kommt Unterstützung. „Wir können den Hilferuf der Schulleiterinnen und Schulleiter an den Gesamtschulen in Hannover nur zu gut verstehen“, sagt Vorsitzender Torsten Neumann. „In Hannover sind es vor allem die Gesamtschulen, in anderen Teilen Niedersachsens sind es vor allem die Ober-, Real- und Hauptschulen, die die Hauptlast der Inklusion zu schultern haben. Dabei fehlen diesen Schulen nicht nur grundsätzlich Lehrkräfte, sondern auch die für eine erfolgreiche Umsetzung der Inklusion notwendigen Förderschullehrkräfte und ausreichend Unterstützungspersonal.“
So wie die Inklusion jetzt laufe, werde sie wenig erfolgreich sein – so motiviert und engagiert sich die Kolleginnen und Kollegen vor Ort auch einsetzen. Neumann: „Eine gleichmäßigere Verteilung auf alle Schulen vor Ort würde Entlastung bringen. Durch das in einigen Regionen unseres Landes komplett abgeschaffte Förderschulsystem fehlen Schulplätze für Problemfälle, die inklusives Unterrichten zusätzlich erschweren. So, wie Inklusion zurzeit läuft, ist sie für alle Betroffenen, Schülerinnen, Schüler wie Lehrkräfte nur belastend und unbefriedigend.“
Die Deutsche UNESCO-Kommission erhob derweil die Forderung, die Förderschulen mit den allgemeinen Schulen zusammenzulegen – und die Mittel für die Inklusion zu erhöhen. “Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Bildungsagenda 2030 der Vereinten Nationen sehen ganz eindeutig die Schaffung eines inklusiven Bildungssystems vor. Das ist alles andere als eine ideologische Vorstellung”, sagte die Vorsitzende der Deutschen UNESCO-Kommission, Uta Erdsiek-Rave (News4teachers berichtete). Agentur für Bildungsjournalismus